Die Maikaefer
sein. Was ihm wirklich zu schaffen macht, ist, dass so viele sein Stottern nachahmen«, sagte Brunhilde.
Jeder auf dem Gut kannte Ricki, und auch er kannte jeden. Schon mit seinen vier Jahren wusste er alle Namen. Und weil er so beliebt war, redete jeder gerne mit ihm, und alle meinten, er fände es besonders lustig, wenn sie auch stotterten. Sie dachten, für Ricki würde dadurch deutlich, dass sie das Stottern nicht verachteten, da sie es ja selbst taten. Hotte meinte, das wäre ja auch nicht falsch, denn zum Beispiel würde sich ein Trinker freuen, wenn andere mit ihm tränken. Brunhilde widersprach und erzählte, wie sehr Ricki darunter litt. Ihr fielen immer traurigere Beispiele ein, und schließlich fing sie an zu weinen, stand auf und ging.
Eine fröhliche Feier hatte es werden sollen, weil wir uns nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr sahen, aber traurig endete es. Auch Eckhard verabschiedete sich, weil er seine Schwester im Dunkeln nicht alleine nach Hause gehen lassen wollte.
Nachdem wir uns Brunhildes Bratkartoffeln geteilt hatten starrten wir in die Kerze in der Mitte auf dem Tisch. Der flackernde Lichtschein machte es nicht gemütlicher, sondern eher gespenstisch. Ich sehnte mich danach, bei Mama im Bett zu liegen und wollte sie gerade fragen, wann wir schlafen gehen würden, als ein naher Schuss uns zusammenzucken ließ.
»War das in der Küche?«, flüsterte meine Mutter.
Dann hörten wir vom Flur her eine betrunkene Männerstimme. Meine Mutter war sofort unter dem Bett. Gleich darauf stolperte ein betrunkener Russe ins Zimmer und fuchtelte mit seiner Pistole herum. Er versuchte, uns klarzumachen, dass er eben aus der Waffe gefeuert hatte. Dagi sprang kreischend auf und versteckte sich hinter Hotte. Der Russe sagte grob und unbeholfen etwas zu ihr, das sie nicht verstand, aber noch lauter weinen ließ. Er wollte sie beschwichtigen, erreichte aber das Gegenteil. Dann fummelte er in seiner Tasche herum und holte etwas heraus, das er in den Lichtschein der Kerze hielt. Alle drei starrten wir entgeistert auf seine Hand. In seinen schmutzigen Fingern hielt er ein Stück Schokolade. Energisch dirigierte er Hotte beiseite und schob die Schokolade grinsend in Dagis Mund.
Hotte war nicht viel kleiner als der Russe. Als das dem Betrunkenen bewusst wurde, drückte er Hotte die Pistole auf die Brust. Hotte blieb ganz ruhig. Mir kam der Gedanke, dass der Russe Hotte in seinem langen Luftwaffenmantel, der ihm bis auf die Schuhe reichte, für einen Soldaten halten könnte. Allein die blanken Uniformknöpfe mussten einen von Schnaps benebelten Steppenbewohner aggressiv machen. Bedrohlich klang, was er zu Hotte sagte und schien mir Recht zu geben. Vielleicht würde er gleich schießen, wie konnte man das wissen? Sicher war das auch Hottes Gedanke, denn geistesgegenwärtig drehte er dem Russen die Pistole nach unten. Mit der Unberechenbarkeit eines Betrunkenen reagierte der Russe darauf zunächst überraschend freundlich, so als wäre alles nur ein Spiel. Dann wieder brüllte er herum, drohte, das Haus in die Luft zu sprengen, sollte es einer von uns wagen, das Zimmer zu verlassen. All das begleitete er mit dramatischen Gesten und der Pistole in der Hand. Als er sich nicht mehr steigern konnte, flog die Tür auf und drei Kameraden vom russischen Wachkommando traten ein. Sie waren einiges jünger als der Wüterich und versuchten vergeblich, ihn zu beruhigen. Schließlich nahmen sie ihm seine Pistole ab, bedrohten ihn mit ihren Waffen und setzten den Tobenden an die Luft. Sie selbst blieben noch einen Moment und entpuppten sich als freundliche, junge Männer. Einer sprach Deutsch, das er in der Schule gelernt hatte, und sagte, nicht alle Rotarmisten reagierten voller Hass auf die Deutschen, so wie es ihnen Ilja Ehrenburg über Flugblätter eingepeitscht hätte. Dann reichten sie uns reihum die Hand, tätschelten Dagi, nahmen sie auf den Arm, drückten Küsse auf unsere Kinderwangen und versprachen, später noch einmal vorbeizuschauen. Was, bei aller Liebe, nicht erwünscht war.
22. KAPITEL
E
s regnete seit zwei Tagen. Alles war matschig. Wir hatten immer nasse Füße, und da nicht geheizt wurde, trocknete meine grün-schwarze Skihose nicht.
Unter Rübezahls neuer Regie sollte Drewitz wieder schnell anlaufen, doch davon konnten wir nur wenig bemerken. Nichts war so wie früher, als ich beim Melken oder Füttern half und beim Kalben zuschauen durfte. Es war trostlos, denn wo nichts funktionierte, konnte ich
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