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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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Auf dem Weg zum Kuhstall, wo er die Tiere hatte füttern und melken wollen, wurde er plötzlich von einem Russen gerufen, aber statt stehen zu bleiben, war er in panischer Angst davongelaufen.
    Wir alle wussten, wer dem »Stoi« nicht gehorchte, wurde erbarmungslos verfolgt.
    Wir zuckten zusammen, als die drei betrunkenen Russen in unser Zimmer polterten. Einer hatte die Lage sofort erkannt, zeigte auf uns, machte ein paar schnelle Schritte und rückte das Bett von der Wand, sodass Bruno vollkommen schutzlos vor ihm lag. Er packte ihn, riss ihn hoch. Schnell und roh stießen sie ihn zur Tür. Dabei fragte uns der Erste, ob wir Russisch könnten.
    Hotte stand auf und sagte etwas auf Russisch.
    Der Soldat griff zu und riss ihn mit sich zur Tür. Ich hörte, wie sie den Flur entlang polterten und dann im Hof herumbrüllten. Ein Schuss fiel. Gleich darauf vernahm ich die laute Stimme Hottes, wie er etwas auf Russisch schrie. Ich wollte aus dem Fenster schauen, um zu sehen, was passierte, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich war wie gelähmt von der Gefahr, in der Hotte steckte. Würden die betrunkenen Wüteriche auch auf ihn schießen? Kaum hatte ich es gedacht, fiel ein zweiter Schuss.
    Als es leise geworden war, stand ich auf und schlich mich bis zur Tür. Bevor ich sie öffnete, schaute ich mich nach Dagi um. Sie saß wie versunken da und malte etwas auf ihre Beine. »Hotte ist tot«, sagte sie.
    Sie weiß nichts, dachte ich und machte ganz vorsichtig die Tür auf. Von draußen war nichts zu hören, also schlich ich mich in den Flur und tastete mich zur Haustür. Mir war, als wäre ich blind oder als wäre es dunkel. Als ich den Haupteingang einen Spalt öffnete, sah ich nur ein Bein in einer Hose und einen Fuß in einem löchrigen Wollstrumpf. Ich begriff, dass jemand mit dem Kopf nach unten auf der Freitreppe lag, dass es aber weder Bruno noch Hotte sein konnten, weil sie Stiefel anhatten und nicht auf Strümpfen herumliefen.
    Ich packte den metallenen Türgriff kräftiger, zog die Tür weit auf und stellte mich breitbeinig in die Öffnung, so, als wollte ich keinen vorbei lassen. Jetzt konnte ich alles sehen: Bruno auf der Freitreppe und die rot gefärbte Pfütze vor den Stufen, in der Hotte mit einem Kopfschuss lag. Ich spürte einen kalten Luftzug auf meiner Netzhaut, ein Brennen in den Augen, dann liefen mir Tränen über die Wangen.
    Ich wusste, wo meine Mutter ihr Nähzeug hatte und ging schnell ins Zimmer, um die Schere zu holen. Als ich zurückkam, hörte ich das Knirschen von Panzerketten, ließ mich dadurch aber nicht beirren. Ich ging die Stufen hinunter und kniete mich neben Hotte. In seinem Pullover war ein großes Loch, durch das ich die blanken Knöpfe seiner HJ-Winterbluse erkannte. Silbrig grau blinkten sie, als wären es kleine Näpfchen mit Wasser, in denen sich der bezogene Himmel spiegelte. Er hatte einmal gesagt, wenn er die Bluse nicht mehr brauchen würde, bekäme ich die Knöpfe. Nun waren es meine Knöpfe. Ich schnitt sie ab und wickelte sie in Stanniolpapier, das ich bei den Fliegerangriffen in Stettin gesammelt hatte.
    Als es dunkel war und meine Mutter von ihrem Beerdigungsdienst zurückkehrte, sagte sie kein Wort über Hotte. Ich auch nicht. Um uns aufzuheitern, brachte sie uns die frohe Botschaft, dass sie Steckrüben organisiert habe, die sie für uns gleich kochen würde. Sie wollte, dass wir ihr dabei helfen, und während wir alle die Wruken schälten und schnitten, erzählte sie uns von einer Frau, die aus ihrem Dorf nach Drewitz geflüchtet war, weil die Russen sie gezwungen hatten, ihren eigenen Mann lebendig zu begraben.
    Hotte lag immer noch da draußen.
    Beim Essen stellte ich fest, dass ich keine Wruken mochte, besonders nicht, wenn sie holzig waren. Vor dem Zubettgehen holte ich die in das Stanniolpapier eingewickelten Knöpfe unter meinem Kopfkissen hervor und steckte sie in einen meiner Schuhe. Am nächsten Morgen, wenn ich die Schuhe anzöge, würde ich sie wieder unters Kopfkissen legen. Und das würde ich immer so machen.
    Auch als wir im Bett lagen, fragte meine Mutter nicht nach Hotte. Auch Dagi erwähnte nichts von ihm. Vielleicht hatte sie ihn schon vergessen.
    Am nächsten Morgen holte ich als Erstes das Stanniolpäckchen aus meinem Schuh, entfaltete es vorsichtig, nahm einen der blanken Knöpfe, wickelte alles wieder zusammen und schob das kleine Päckchen unter mein Kopfkissen. Mit steifen Beinen ging ich zur Haustür und öffnete sie vorsichtig. Der Himmel

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