Die Maikaefer
Auge haben, weil er während der Brut recht aggressiv war. Um ihn zu beruhigen, brabbelte ich beständig vor mich hin: »Wule wule Gänschen, Suse, Matruse, was raschelt im Stroh …« Ich war auch dafür zuständig, dass die kleinen Gänse ein Band um das rechte Bein bekamen, sodass sich erkennen ließ, welche unsere und welche Schattners waren.
Da meine Mutter mit Onkel Albi und Tante Sissi befreundet war, denen Drewitz gehörte, und das Rittergut viel mehr Platz für Gänse hatte, brachten wir sie am Anfang des Sommers dorthin, wo sie die Gänsehirtin Maria Aretz mit den etwa fünfhundert Gänsen des Gutes übernahm.
Letztes Jahr hatte ich dafür erst die Genehmigung des Administrators einholen müssen, der auf Drewitz für die Bewirtschaftung zuständig war. Rudolf Bahlow war ein grauhaariger, etwa sechzigjähriger Herr mit einer Narbe an der Oberlippe, die ihn ziemlich grimmig aussehen ließ. Er hatte sie sich als Student in Berlin bei einem Säbelkampf gegen einen anderen Studenten geholt, der seine Verlobte und spätere Frau Magdalene »fixiert«, was so viel bedeutete wie »angestarrt« oder »verlangend gemustert«, hatte. Das verletzte seine Ehre, er forderte »Satisfaktion« und trug dem Betreffenden »eine schwere Säbelkiste« an. Daher stammte der »Schmiss«.
Auf Drewitz war Bahlow das Bindeglied zwischen Onkel Albi und dem Hofmeister Erich Domke. Er wohnte mit seiner Frau Magdalene, die für alle Tante Leni war, im Ostflügel des Herrenhauses. Ich mochte ihn, weil er zwar »gerecht gegen sich selbst und andere« war, zu mir aber immer freundlich. Stets trug er Reitstiefel und einen grauen oder grünen Anzug mit einer Mütze. Seine Jacke war immer offen, damit er jederzeit die Taschenuhr zücken konnte, die sich an einer goldenen Kette in der Westentasche befand. Er ritt – nach Onkel Albi – das beste Pferd, einen Trakehner namens Fritz. Auch aus diesem Grund hatte er meine Achtung. Nach einem kurzen Gespräch über mein Lieblingsfohlen gab er mir die Zusage, dass wir unsere Gänse wieder nach Drewitz in Pension geben könnten.
Zusammen mit den Kindern der Gutsarbeiter, die sich pro Familie zwanzig Gänse halten durften, trieb ich sie dann dort auf ein abgeerntetes Feld, wo sie genügend Ähren und frisches Grün fanden. Paul hatte mich letztes Jahr für einen Nachmittag besucht, und gemeinsam sammelten wir an der Tränke, wo die Gänse ihr Gefieder putzten, so viele große Federn, wie in unseren Korb passten, um zu Hause daraus Indianerschmuck zu basteln. Als wir mit der Gänseherde abends zurück aufs Gut kamen, erlebte Paul zum ersten Mal, wie sie alle auf den Teich flatterten, um die Wette schnatterten, sich badeten, putzten und aufplusterten. In Berlin hatte er noch nie eine Gans gesehen und war ganz aufgeregt, als er die lange Leine mit halten durfte, die die anderen Jungs und ich quer über den Teich gespannt hatten, um die Gänse in den Stall zu treiben. Sie kreischten und schlugen mit den Flügeln, aber die einzelnen Gänsefamilien blieben stets zusammen. Wenn sie alle verschwunden waren, war der Teich bedeckt von weißen Federn. Paul und ich passten auf, was unsere Gänse taten. Cerberus watschelte zuerst aus dem Wasser, und die Familie folgte ihm im Gänsemarsch.
So marschierten sie bis September denselben Weg jeden Morgen und Abend. Von da an blieben sie bei Futtermöhren und Hafer im Stall. Wenn sich Anfang November der Sankt Martinstag näherte, sangen die Kinder auf dem Gut: »Die Gänse haben Sankt Martin verraten, darum tut man sie jetzt braten.«
Zu der Zeit holten wir unsere Gänse aus der Sommerpension zurück. Zwei schlachteten wir zu Weihnachten, die übrigen gab meine Mutter armen Leuten in der Stadt. Tante Doro brachte ihre zum Schlachter, ließ sie dort zubereiten und schickte das Fleisch Verwandten nach Berlin, denn Weihnachten 44 wurden die Nahrungsmittel in den großen Städten sehr knapp.
Bei uns übernahm meine Mutter das Schlachten. Sie schnitt dem Tier den Hals durch. Ich versteckte mich hinter der Tür, weil ich die Gans von klein auf kannte. Zwar hatte ich den Schlachtgänsen keine Namen gegeben hatte, doch hätte ich keiner von ihnen ein Leid antun können, obwohl das Schlachten der Hühner und Gänse genauso zum Landleben gehörte wie Pferde vor den Wagen zu spannen.
Wenn meine Mutter mich dann rief und ich ihre blutigen Hände sah, fürchtete ich mich immer erst vor ihr, bevor ich sie für ihre Stärke bewunderte. Niemand im Haus hätte ihr die Aufgabe
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