Die Maikaefer
abnehmen können. Weder Tante Kläre noch die Schattners oder mein Vater wären imstande gewesen, eines der Tiere zu töten. Nach diesem grausigen Akt halfen Tante Kläre und ich, das Blut in einer Schüssel aufzufangen. Ständig musste es gerührt werden, damit es nicht gerann. Das machte Tante Kläre. Mir wurde es dann überlassen, die Gans zu rupfen. Ich fand das Ausreißen der Federn nicht nur anstrengend, es tat mir auch weh. Immer dachte ich daran, wie es ziepte, wenn mir die Haare grob gekämmt wurden.
Nachdem die Gans gut gesäubert und abgetrocknet war, wurde sie innen wie außen kräftig gesalzen und gepfeffert, mit einem Boskop-Apfel, mehreren Zwiebeln und Thymian gefüllt und von meiner Mutter zugenäht. Auch beim Braten half ich, denn während der etwa drei Stunden musste die Gans in kurzen Abständen mit ihrem eigenen Fett übergossen werden.
Dieses Schlachten und Braten der Gans zu Weihnachten, das Räuchern der Gänsebrust, das erste Abschmecken des Gänse- und Griebenschmalzes, in das wir frisches Brot stippten, waren aufregende Stunden und fast rituelle Handlungen, die meine Mutter und mich zusammenschweißten. Weihnachten ohne Gänsebraten war unvorstellbar und Gänsebraten ohne meine Mutter undenkbar. Weit weg war damals der Gedanke, dass mir irgendetwas davon genommen werden könnte.
Paul saß auf dem Feldstein über ein Buch gebeugt. Er war vollkommen in sich versunken. Als ich mich näherte, hob er den Kopf und beobachtete lächelnd, wie ich mit Schwung von Scholle zu Scholle sprang, sodass sie unter mir zerbrachen. Die Gänse und Gänschen hatten sich um den Rand des Ackers verteilt, wo sie in den Brennnesseln herumschnäbelten. Ich wusste, wenn sie da nichts mehr fänden, würden sie weiterziehen, und Paul würde es nicht einmal bemerken. Obwohl er die Gänsezucht und das Hüten erst zum zweiten Mal mitmachte, hatte er nach seiner anfänglichen Begeisterung das Interesse dafür verloren. Alles, was nicht mit Waffen und Kampf zu tun hatte, war für ihn »Weiberkram« und interessierte ihn nicht.
Mich erstaunte das immer, denn er wirkte nicht wie ein wilder Krieger, sondern eher wie ein hübsches, sanftes Mädchen. Seine Mutter war groß und schlank, hellblond wie ihr Sohn und hatte jedem ihrer drei Kinder zwei Jahre lang die Brust gegeben, wie sie meiner Mutter erzählt hatte. Meine Mutter nannte Dorothea Schattner deshalb eine »vorbildliche Reichsmutter«, vielleicht auch weil sie in Berlin Mitglied mehrerer Frauenorganisationen der Partei gewesen war. Sie selbst sagte, das sei dem Einfluss ihrer Schwester zuzuschreiben, die eine bekannte Sprecherin im Rundfunk war.
Täglich berichtete diese Schwester, an welcher Front wir welche Schlacht gewonnen hatten, Sendungen, die meine Mutter und ich uns schon ein paar Mal angehört hatten. Sie war direkt dem Propagandaministerium unterstellt und hatte daher einen guten Draht zu der Abteilung, bei der alle Kriegsnachrichten zusammenliefen. Sie wusste immer, wo welche Schlacht stattfand. Manchmal rief sie an, denn Schattners hatten ein Telefon, sprach dann auch mit Paul, und so erfuhr er die neuesten Frontnachrichten. Meine Mutter staunte darüber, dass er sich alle Einzelheiten merken konnte, auch wenn er sie nur einmal gehört hatte. Tante Doro nannte das »krankhaft«. »Wenn ich’s nicht genau wüsste«, sagte sie einmal, »würde ich annehmen, dass er nicht mein Kind, sondern der Sohn meiner Schwester ist.«
Als ich vor ihm stand, sah ich, dass er gar nicht las, sondern das Buch nur als Unterlage benutzte. Darauf lag ein großer Zettel, auf den er irgendetwas zeichnete, statt auf die Gänse zu achten.
»Was machst du da?«, fragte ich verwundert.
»Das ist Sewastopol. Hier, siehst du? Das belagere ich. Und dies ist das größte Geschütz der Welt. Es heißt die Dora-Kanone, ist 1350 Tonnen schwer und braucht zum Bedienen eine 4400-köpfige Mannschaft.«
Er warf einen Blick auf sein Blatt und betrachtete selbstgefällig die Kanone mit dem viel zu langen Rohr.
»Das ist viel zu lang«, sagte ich.
»Nein, das Kanonenrohr ist so lang. Es ist 32 Meter lang, und jede Granate wiegt sieben Tonnen. Die Geschosse können eine zehn Meter dicke Betonwand durchschlagen oder dreißig Meter Fels. Wir haben jetzt vierzig Granaten in die verteidigte Stadt geschossen und damit alles zerstört. Alles ist nur noch eine Ruinenwüste.«
Ich zeigte auf die Gänse und sagte, er müsse sie ein wenig zusammentreiben, damit sie nicht wegliefen. Aber er
Weitere Kostenlose Bücher