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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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Drewitz nicht entgangen, dass Onkel Albi nicht nur die Regeln bei Tisch und auf dem Gut bestimmte, sondern auch stets alles besser wusste. Jedem auf dem Gut war das klar, und man musste schon ein Träumer wie Paul sein, um das ungeheure Sakrileg zu begehen, jemanden von so hoher Stellung mit einer derartigen Rede herauszufordern. Natürlich war es nicht die politische Perspektive Pauls, die so empörte, sondern die Ungezogenheit, in Gegenwart von Erwachsenen so lange und so belehrend daherzureden.
    Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Man könnte annehmen, ich hätte ihn dafür bewundert wie für den Ritt auf einem schwierigen Pferd. Bewundert für die Missachtung aller Hierarchien, doch diese Haltung, die später im positiven Sinne »demokratisch« genannt wurde, war jedem am Tisch so vollkommen fremd und außerhalb der Welt, dass Paul während seiner Rede auf mich gewirkt hatte, als spräche er in Trance oder als wäre ein Geist in ihn eingetreten, der eine jener Reden hielt, wie ich sie auch manchmal im Radio hörte. Vielleicht war es ein Geist von einem Nachbarstern, auf dem der kleine Prinz noch nicht gewesen war und von dem er vielleicht in späteren Erzählungen berichten würde, B 613.
    Paul schwieg nicht sofort, nachdem Onkel Albi ihn unterbrochen und entschieden hatte, dass »dies kein Thema für eine Konversation bei Tische« sei. Obendrein wagte er es dann noch, sich zu rechtfertigen, sodass Onkel Albi in knappem Kommandoton bestimmen musste: »Verlass bitte den Tisch!«
    Paul senkte den Blick und schaute so traurig auf seinen Teller, dass ich für einen Moment glaubte, er würde anfangen zu weinen. Dann legte er die Serviette beiseite, stand auf und verließ den Raum, nicht ohne sich in der Tür noch einmal umgewandt und zu allen verbeugt zu haben.
    Am liebsten wäre ich sofort hinterhergelaufen, aber ich musste warten, bis Onkel Albi »Gesegnete Mahlzeit« sagte, aufstand und die Tafel aufhob.
     
    Ich rannte gleich hinauf zu Pauls Zimmer im zweiten Stock. Wir mussten nach dem Mittagessen immer eine Stunde schlafen, und Paul hatte sich vielleicht schon ins Bett verzogen.
    Sein Zimmer war akkurat aufgeräumt, das machten jeden Morgen die Stubenmädchen. Das Bett war unberührt, aber dennoch fiel mir irgendetwas auf, das nicht stimmte.
    Das Oberlicht stand auf. Ich hörte von draußen das Gezirpe der Mehlschwalben, die ihre Nester unter Dachvorsprüngen bauten und deren schwatzendes Zwitschern ich von dem der Rauchschwalben unterscheiden konnte. Ich mochte sie lieber als die Rauch- und Uferschwalben, weil sie wegen ihrer schwarzen Flügel und der weißen Unterseite so schnittig aussahen, was gut zu ihrer eleganten Flugtechnik passte, mit der sie Insekten jagten oder im Flachflug über das Wasser des Dorfteiches glitten und dabei tranken.
    Ich bliebe eine Weile bewegungslos in der Tür stehen und sah die Schwalben an- und abfliegen. Dabei wurde ich in eine Art zeitlosen Zustand versetzt. »Für dich bleiben manchmal die Uhren stehen«, hatte Tante Kläre gesagt, nachdem ich ein paar Mal zu spät zum Essen gekommen war. Auf dem Land gab es viele Dinge, die diese Wirkung auf mich hatten, zum Beispiel der Gesang der Lerchen, das Rauschen des Windes in den Kronen, das Tropfen des Wassers nach einem Regen, das Quietschen der Pumpe.
    Schließlich fiel mir auf, dass Pauls Koffer auf dem Schrank eine Ecke der Kante überragte. Auch der Stuhl vor dem Tisch am Fenster stand mit der Lehne nicht parallel zur Tischkante, und ich wusste, beides würden die Stubenmädchen korrigiert haben. Diese Asymmetrie in dem Zimmer ließ mich auf den Gedanken kommen, dass Paul nach dem Essen hier gewesen war und in einem ersten Impuls seinen Koffer vom Schrank hatte nehmen wollen, um zu packen und wegzulaufen. Dann hatte er sicherlich begriffen, dass er dazu eine Kutsche und Otto Grohmann brauchte und die Idee aufgegeben. Aber wo war er nun?
    Inzwischen kannte er Eule, der möglicherweise mit Brunhilde bei den Bienenstöcken war. Erst aber würde ich in der Schmiede nachschauen, denn Hotte schien einen Narren an Paul gefressen zu haben, mit dem er sich in jeder Pause traf.
    Als ich aus der Haustür trat, blieb ich einen Moment auf der Freitreppe stehen. Der Wind blies das Wasser der Fontäne durch die Luft und vor dem Brunnen war eine Pfütze entstanden, an deren Rand eine Ringeltaube saß. Sie trank. Ein Schwarm Spatzen kam dazu und leistete ihr für einen Moment Gesellschaft. Über den Himmel trieb der Wind ein paar weiße Wolken,

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