Die Maikaefer
nicht entschieden, und wir konnten mit anderen Kindern kleine Boote fahren lassen, die sie mitgebracht hatten. Das Einzige, was mir und Dagi ganz und gar nicht gefiel, war der Brauch, nach dem Essen in der Pension eine Stunde Mittagsschlaf zu halten. Davon ging meine Mutter nicht ab. Sie meinte, wir wären sonst zu nölig.
Einmal hatte ich eine Revolte dagegen unternommen, mich aber nicht durchgesetzt. Als wir nachmittags wieder am Strand waren, trottete ich immer noch schlecht gelaunt die Wasserkante entlang. Ich war so mürrisch, dass ich mit dem Hacken auf alle Muschelschalen trat, die auf meinem Weg lagen. Ich war entschlossen, kilometerweit zu gehen, so weit, bis Erschöpfung meinen Ärger überlagern würde. Zwanzig Meter hatte ich schon hinter mir, da hörte ich ein lautes Geschrei. Ich blieb stehen und sah unter der Anlegebrücke für Schiffe eine Frau im Wasser, die aufgeregt mit den Armen auf etwas zeigte, das ihr davon geschwommen war. Ich konnte nicht erkennen, was es war, aber ihre Aufregung versprach eine Abwechslung. Ich lief schnell, bis ich nah genug war und sehen konnte, dass es etwas in weißes Pergamentpapier Gewickeltes war – etwa so groß wie ein Brötchenbeutel. Dem Geschrei der Frau konnte ich jedoch entnehmen, dass es etwas viel Wertvolleres als Brötchen sein musste. Die Vorstellung von etwas Wertvollem hatte damals jeder im Kopf, denn durch die Fliegerangriffe und die Flüchtlinge, die in großen Trecks immer zahlreicher aus Ostpreußen kamen, redete jeder davon, dass er das Wertvollste noch gerettet hatte oder retten würde oder leider nicht mehr retten konnte. Ich wusste zwar nicht, was die Leute als wertvoll erachteten, aber das Wort und die damit verbundenen Signale waren mir vertraut.
Ich rannte mit aller Kraft ins Meer, um so schnell wie möglich zu der Frau zu gelangen und sie zu fragen, was so Wertvolles da vor ihr schwamm. Als ich sie erreichte, ging mir das Wasser schon bis zu den Achselhöhlen. Ich hielt die Arme hoch, weil es doch etwas kühl war und rief ihr die Frage zu, was sie verloren hätte. Sie hörte nicht auf mich, sondern schrie etwas zur anderen Seite, von der sie auch Hilfe anforderte.
Das weiße Päckchen schaukelte nun fünf Meter von mir entfernt auf den nächsten Brückenpfeiler zu. Ich wusste, dass es die Frau davon abhielt, weiter ins Wasser zu gehen, da der Meeresboden in der Nähe der Pfeiler steil abfiel. Sie konnte vermutlich ebenso wenig schwimmen wie ich, denn das konnten damals nur wenige, und daher war es ihr zu riskant, dem Pergamentpäckchen zu folgen.
Ich aber tat es. Ohne zu überlegen hechelte ich auf das Treibgut zu, dem ich mit jedem Schritt näher kam. Das Wasser wurde tiefer, ich musste mich immer mehr strecken, musste schließlich auf Zehenspitzen stehen, gab aber dennoch nicht auf, sondern paddelte mit den Armen weiter. Das Wasser reichte mir schon bis zur Unterlippe, aber das schwimmende Päckchen war greifbar nahe, ich wollte auf keinen Fall aufgeben. Mit dem letzten Ruderschwung verlor ich den Boden unter den Füßen. Ich strampelte, doch nicht vor Angst sondern vor Gier, und schaffte es, das Paket zu greifen. Sofort wandte ich mich zurück, wie ein Hund, der brav etwas apportierte, schluckte Wasser, ruderte mit dem freien Arm und strampelte, bis ich mit den Zehen wieder Boden spürte. Mit den Füßen konnte ich mir kleine Schubse geben und erreichte allmählich flaches Wasser. Ich nahm das Paket in beide Hände und hastete zum Ufer. Dort drehte ich mich um, um nach der Frau zu sehen. Sie wedelte immer noch mit den Armen und dirigierte einen Mann in Richtung auf den Brückenpfeiler, vielleicht weil sie annahm, dass das Paket dort versunken wäre.
Ich setzte mich auf den Strand und faltete das Pergamentpapier vorsichtig auseinander. Was ich sah, machte mich fassungslos. Als ich es begriff, durchflutete mich eine Welle von Glück. In meinen Händen hatte ich Butter! Einen dicken Klumpen selbst hergestellter Butter.
Ich sah mich strahlend vor meine Mutter hintreten, in beiden Händen, die ich zu einer Schale zusammengefugt hatte, den Klumpen löwenzahngelber Butter. Ich liebte meine Mutter, und ich war ihr ein lieber Sohn. Aber mir ging es um die Steigerung. Schon jetzt hatte ich alles vor Augen.
Euphorisiert sprang ich los und rannte zu unserer Burg. Stolz und strahlend rief ich schon von weitem: »Rate mal, was ich dir mitgebracht habe?«
Dann trat ich vor sie hin, die Butter in meinen Händen, ihr schneller Griff und dann ihr
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