Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
Vom Netzwerk:
verdrängen. Vielleicht wäre das kein Sieg auf ganzer Linie gewesen, aber eine Entschädigung. Dann hätte ich abends meine Mutter gehabt und sie Alexa. Also war mein nächster Gedanke, meine Mutter zu bitten, mir aus dem Buch Der kleine Prinz vorzulesen. Der kleine Prinz wurde nämlich nicht mehr aufgeführt, seit Tante Kläre nach Stettin gezogen war.
    Als ich meine Mutter suchte, fand ich sie im Herrenzimmer am Schreibtisch. »Liest du mir den kleinen Prinzen vor?«
    »Ich komme nachher noch Gute Nacht sagen, aber jetzt schreibe ich einen Brief an deinen Vater«, sagte sie, und ich musste mit langem Gesicht abziehen.
    Ich gebe zu, dass ich der Ansicht war, es würde meine Mutter durch und durch beglücken, wenn sie mir vorlesen oder etwas kochen oder etwas nähen dürfte. Ich war der Meinung, mein Glück wäre ihr Glück. Nun aber beschlich mich zum ersten Mal die Ahnung, dass die Befriedigung meiner Bedürfnisse sie nicht unbedingt beglückte, sondern dass es alles viel unbequemer war und mein Plan nur funktionieren würde, wenn ich nichts von ihr haben wollte, sondern ihr etwas gäbe, das ihre Bedürfnisse befriedigte. Aber was konnte ich ihr anbieten? Einer erwachsenen Frau, die alles hatte?
    Butter fiel mir plötzlich ein, und ich erinnerte mich an einen ihrer ärgerlichen Sätze über den Parteigenossen Ludwig Finke: »Erst lassen sie sich den Krieg einfallen, dann rationieren sie die Butter, und jetzt glotzt der Ortsgruppenleiter noch höchstpersönlich in die Kannen und Fässer, damit auch jedes Gramm bei der Partei landet!«
    Die Butter war ein Thema, und ich hatte auch mit Alexa schon ein paar Mal darüber gesprochen, wie ich wohl für meine Mutter Butter auftreiben könnte. Sie hatte gesagt: »Mal ihr doch welche.« Also nahm ich meinen Malblock und Stifte und malte eine kleine Pyramide aus Butterstücken, schön eingewickelt in dem weißen Papier mit der schwarzen Aufschrift »Deutsche Molkereibutter«. Auf dem nächsten Blatt ließ ich die Butter zusammenschmelzen zu einem Frankfurter Kranz, dem ich eine Krone mit goldener Buttercreme und rotem Johannisbeergelee aufsetzte.
    Als ich ihr das brachte, war sie so entzückt, dass sie den Brief an Papa liegen ließ, mich ins Bett brachte und mir eine Geschichte vom kleinen Prinzen vorspielte. Meine neue Einsicht über das Geben statt des Nehmens hatte also geklappt.
    Als ich selig einschlief, begriff ich außerdem, dass ich mein Glück nicht nur meiner Initiative verdankte, sondern auch meiner Fähigkeit, irgendwelche Dinge, Tiere oder Menschen zu Papier zu bringen. Ich hatte damit sogar meinen Vater »aus dem Feld geschlagen«, wie er selbst sagen würde, denn schließlich hatte sie den Brief an ihn liegen lassen, um mich ins Bett zu bringen. Es war auch nicht sehr fernliegend, denn alle Frauen um mich herum lobten meine Bilder und sagten dann: »Der wird mal ein Maler.«
    Mein eigentlicher Sieg aber wartete noch und würde mich lehren, was ich schon etliche Male von Tante Kläre gehört hatte: Dass das Glück des Menschen zwar von seinem Schicksal abhinge, der Mensch es aber erkennen und beim Schopfe packen müsse, wie ich es dann in Swinemünde tat.
    Eine Woche später fuhr meine Mutter mit uns dorthin an die Ostsee. Es waren die Tage höchsten Glücks, weil ich bei den Reisen an die Ostsee mit ihr zusammen war – tags am Strand in der Burg und nachts im Hotelzimmer. Ob Swinemünde, Mistroy, Reval, Horst, Deep, Kolberg, Rügenwalde oder Stolpmünde – zuerst kam immer das Wettrennen. Wer würde das Meer zuerst riechen, wer es zuerst sehen?
    Am Bahnhof wartete eine Kutsche oder ein Dienstmann, der das Gepäck nahm und mit einer Karre zum Hotel oder in die Pension brachte. Wir begleiteten ihn, wenn er Koffer und Taschen aufs Zimmer trug. Danach ging das Wettrennen los. Oft konnten wir das Meer schon riechen, bevor wir die Pension erreichten, aber dann galt es aufs Neue, wer am schnellsten über die schmalen Bretterlaufstege durch die Dünen kam und, wild mit den Armen wedelnd, schreien konnte: »Das Meer! Ich sehe es, ich sehe das Meer!« Für Dagi war es eine weitere Gelegenheit zu heulen, weil sie es nie als Erste schaffte.
    Es war Hochsommer, das Seebad war sehr voll, am blauen Himmel zeigte sich nichts als gelegentlich ein Fieseier Storch, der einmotorig dahin schnurrte, alle Strandkörbe waren vermietet, meine Mutter braun und glücklich, der Wettbewerb um die schönste Burg, die wir jeden Tag neu begossen und mit Muscheln schmückten, war noch

Weitere Kostenlose Bücher