Die Maori-Prinzessin
Hariata hielt. Schließlich kam Eva jeden Abend erst spät aus Napier nach Meeanee zurück. Sie konnte sich inzwischen einen klapprigen, aber fahrtüchtigen Austin leisten, denn über ihr Gehalt konnte sie sich wahrlich nicht beklagen. Nur Zeit hatte sie keine mehr. Auch nicht für Großmutter Lucie, die seit dem letzten Jahr mit einer Herzschwäche zu kämpfen hatte. Hariata sorgte sich in ihrer Freizeit rund um die Uhr um Lucie, während Eva sie höchstens zu den Mahlzeiten am Wochenende sah. Und dann kamen sie auch nicht wirklich zum Reden. Und wenn Eva ehrlich war, dann ahnte sie, warum sie auch nicht unbedingt die Nähe zu Lucie suchte: Zu groß war ihre Sorge, dass Lucie sie bitten würde, endlich einem Begräbnis für Adrian zuzustimmen. Obwohl Evas Verstand keinen Zweifel hegte, dass Adrian zu den Opfern des Erdbebens zählte, rebellierte ihr Herz gegen diesen Gedanken. Das wäre unwiederbringlich das Ende.
An diesem Tag würden Lucie und Hariata Eva in die Stadt begleiten. Eine seltene Unternehmung, da Lucie sich am wohlsten auf ihrem Berg fühlte. Natürlich kannte Eva den Grund, warum die alte Maori die Stadt mied. Offenbar befürchtete sie, ihrer Schwester Harakeke zu begegnen. Die war damals, nachdem Lucie gestanden hatte, ihren Vater getötet zu haben, ohne ein weiteres Wort gegangen. Lucie war zu stolz, ihr nachzulaufen. Aus falschem Stolz, wie Eva fand. Wahrscheinlich hatte Harakeke unter Schock gestanden, und wenn Lucie ihr heute erzählen würde, warum das damals alles geschehen konnte, ihre Schwester würde sie mit Sicherheit verstehen. Aber Lucie konnte schrecklich stur sein. So hatten sich die beiden alten Damen seit Februar 1931 nicht mehr gesehen.
Eva hatte sich so oft vorgenommen, Harakeke zu besuchen, war aber nie dazu gekommen. Manchmal sprach sie Lucie zaghaft darauf an und fragte sie, ob sie nicht über ihren Schatten springen könnte, aber die alte Dame wollte von diesem Thema nichts hören. Dabei war Eva neugierig zu erfahren, was dieser Hehu mit dem Ganzen zu tun hatte. Doch seit Adrians Verschwinden hatte Lucie keine Anstalten mehr gemacht, ihre Lebensgeschichte zu diktieren. Wenn ich wieder mehr Zeit habe, dann schlage ich ihr vor, die Geschichte doch noch aufzuschreiben – falls Adrian doch noch zurückkehren sollte, dachte Eva und stieß einen tiefen Seufzer aus. Falls … Im ersten Jahr hatte sie jeden Tag an ihn gedacht und beinahe jede Nacht von ihm geträumt, doch in letzter Zeit war der Gedanke an ihn ein wenig verblasst. In diesem Augenblick wurde ihr wieder einmal bewusst, wie schmerzlich sie ihn vermisste. Und dass sie ihr Glück unmöglich an der Seite eines anderen Mannes suchen durfte. Anlässlich der Trauerfeiern, die ein Jahr nach dem Erdbeben im letzten Januar in Napier stattgefunden hatten, hatte Daniel ihr zu verstehen gegeben, dass er sie immer noch liebte. Eva hatte ziemlich verstört reagiert und ihn förmlich in die Arme von Elizabeth, der Tochter eines der älteren Architekten aus dem Büro, getrieben.
»Mein Gefühl dir gegenüber wird sich niemals ändern! Niemals!«, hatte sie ihm auf den Kopf zugesagt. Dabei hatte das gar nicht der Wahrheit entsprochen. Es waren weit mehr als freundschaftliche Empfindungen, die sie dem inzwischen erfolgreichen Jungarchitekten entgegenbrachte. Er hatte sich seit ihrer ersten Begegnung sehr verändert und war fast ein wenig zu ernst geworden. Eva hatte eines Tages nicht mehr länger vor der Erkenntnis weglaufen können, wie groß sein Platz in ihrem Herzen geworden war. Das war an einem Sonntag gewesen, als sie ihn mit einer strahlenden Elizabeth im Arm an der Marine Parade getroffen hatte. Was hätte sie dafür gegeben, statt der jungen unbeschwerten Frau an seiner Seite zu promenieren! Und Lucies klare Worte, die sie an diesem Tag ausnahmsweise einmal nach Napier begleitet hatte, klangen ihr noch im Ohr. »Nach der Farbe deiner Wangen zu urteilen, ist er dir gar nicht so gleichgültig, wie du immer behauptest!« Eva aber hatte ihre Gefühle trotz der verräterischen Röte rundweg abgestritten. Seitdem mied sie Daniels Gegenwart, was nicht immer einfach war, weil ihre Zimmer im Büro einander gegenüberlagen. Und an diesem besonderen Tag waren sie sogar gezwungen, gemeinsam aufzutreten.
Eva drehte sich noch einmal vor dem Spiegel. Sie hatte sich das eng geschnittene, knöchellange und tief dekolletierte Prinzesskleid aus rosa Taft extra zu diesem Anlass schneidern lassen. Es saß perfekt und passte hervorragend zu ihrem
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