Die Maori-Prinzessin
stehen und biss sich auf die Lippen. Sie ahnte, was dieser Fund zu bedeuten hatte. Vielleicht hätte sie Berenice zurückhalten müssen, aber in diesem Augenblick fehlte es ihr an Kraft.
»Hast du eine Ahnung, was da draußen los ist?« Tante Ha war zum Fenster gerannt und versuchte, etwas aufzuschnappen von den aufgeregten Worten, die Lucie mit dem Fremden im Garten wechselte, aber dann verschwanden sie aus ihrem Blickfeld. »Meinst du, ich soll mal nachschauen? Vielleicht braucht Lucie meine Hilfe«, fügte sie besorgt hinzu.
»Nein, nein, ich glaube, da kannst du nicht helfen, auf keinen Fall, nein …«, stammelte Eva. Schließlich wusste sie nicht, wie Tante Ha reagieren würde, wenn sie plötzlich vor dem mit einem Federmantel zugedeckten Skelett stehen würde. Schließlich war der Tote ihr Vater.
Harakeke musterte sie durchdringend. »Ihr verheimlicht mir etwas, oder?«
»Vertrau mir einfach. Ich denke, Lucie wird bestimmt mit dir reden, sobald sie zurück ist. Es wäre falsch, wenn ich jetzt zu viel verraten würde …«
»Wie kannst du etwas über Lucie wissen, was mir nicht bekannt ist? Ich kenne sie seit ihrer Geburt. Wir sind Schwestern, wir haben keine Geheimnisse voreinander! Ich war doch eben diejenige, die die drohende Katastrophe im letzten Augenblick verhindert hat!« Harakeke klang gekränkt.
»Ich weiß das ein oder andere, weil Lucie mir ihre Lebensgeschichte für Adrian diktiert hat, die soll er zur Hochzeit …« Weiter kam Eva nicht, weil es ihr bei diesen Worten förmlich die Kehle zuschnürte.
Ihr wurde soeben schmerzlich klar, dass Adrian niemals erfahren würde, was Lucie ihm zu sagen hatte. Dass er ohne dieses Wissen gestorben war, dass er niemals wiederkommen würde. Eva brach in Tränen aus. »Er wird ihre Lebensgeschichte niemals erfahren. Verstehst du? Niemals!«, schluchzte Eva.
Harakeke kam auf sie zu und nahm sie in den Arm.
»Schon gut, mein Kind, schon gut, ich hatte nur plötzlich so ein komisches Gefühl im Bauch, dass sie mir etwas verheimlicht.« Sie löste sich von Eva und ging zurück zum Fenster. Unten entdeckte sie Berenice, die nach oben schielte und grinste. Harakeke zuckte zurück. »Was es auch immer sein mag, es scheint meine Großenkelin zu amüsieren.«
Wenn es das war, was Eva vermutete, dann konnte sie sich vorstellen, dass Berenice jetzt Oberwasser hatte. Wie gern wäre Eva nach unten geeilt und hätte Lucie beigestanden, aber Eva befürchtete, dass es zu spät war und Berenice bereits einen teuflischen Plan gefasst hatte, wie sie die ungeheuerliche Entdeckung gegen ihre Großmutter verwenden könnte. Evas Herz klopfte ihr bis zum Hals. Besorgt blickte sie zur Tür.
Es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit, bis Lucie zurückkehrte. Sie war aschfahl im Gesicht und ging vornübergebeugt, als wäre sie um Jahre gealtert. Stöhnend ließ sie sich in einen Sessel fallen. »Sie haben ihn gefunden«, murmelte sie verstört.
»Wen? Um Himmels willen, wovon sprichst du?«, wollte Harakeke wissen, doch Lucie blieb ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen wandte sie sich an Eva: »Pack deine Sachen. Wir müssen das Haus heute noch verlassen!«
»Bist du völlig durchgedreht?« Harakeke tippte sich an die Stirn. »Du willst dich wohl kaum von deiner Enkelin aus deinem eigenen Haus jagen lassen?«
Lucie atmete schwer. »Ich muss. Sie stellt mich vor die Wahl. Entweder gehe ich auf der Stelle oder sie holt die Polizei.«
»Polizei?«
»Sie haben die Überreste unseres Vaters unter den Trümmern gefunden. Der Federmantel hat verraten, dass es sich um einen Maorihäuptling handelt. Wie sollte ich da noch leugnen?«
»Wie bitte?« Harakeke sank auf einen Sessel. »Dann ist es also doch wahr, wessen man Hehu damals beschuldigt hat? Und du hast es die ganze Zeit gewusst? Das ist nicht dein Ernst. Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass du alle belogen hast, sogar mich, deine Schwester, die dir immer beigestanden hat, die dir stets die Kohlen aus dem Feuer …«
»Hehu hat Vater nicht umgebracht«, unterbrach Lucie Harakeke leise, »sondern ich!«
2. T EIL
M EEANEE /N APIER , F EBRUAR 1933
Das schreckliche Erdbeben in der Hawke’s Bay war mittlerweile auf den Tag genau zwei Jahre her, vergessen war es aber auf keinen Fall. Das Stadtbild in der Innenstadt von Napier hatte sich im Vergleich zu der Zeit vor dem Beben völlig verändert. Die Straßen waren breiter geworden und die neuen Gebäude erdbebensicher aus Stahl und Beton errichtet. Langsam waren auch die
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