Die Maori-Prinzessin
Himmel.
Lucie hatte sich auf der anderen Straßenseite im Schatten eines Baumes versteckt und beobachtete den Eingang. Sie traute sich nicht zu klingeln, weil sie dann Gefahr lief, dass Misses Thomas ihr die Tür öffnete. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu ihrem Mann und ihrem Sohn ab. Sie ahnte, dass sie das Ausmaß dieses dramatischen Verlustes noch nicht wirklich erfasst hatte. Je länger sie unter dem Baum verharrte, desto tiefer drang es in ihr Bewusstsein vor. So sehr, dass sie ihr Unternehmen abbrechen wollte. Sie konnte doch nicht diesem Kerl auflauern, während ihr Leben binnen Stunden komplett aus den Fugen geraten war.
Gerade als Lucie sich abwenden wollte, ging die Haustür auf. Ein älterer fein gekleideter Herr trat in Begleitung einer jungen Frau auf die Straße. Lucie vermutete, dass es Misses Thomas und ihr Vater waren. Die junge Frau war weder hässlich noch hübsch. Sie war unscheinbar, hatte aschblondes Haar und trug ein Kleid, das nichts von ihren Formen zeigte. Lucie konnte nicht abschätzen, was für eine Figur sie besaß. Aber eines war auffällig: Es lag etwas Trauriges in ihrem Gesicht. Während sich die beiden vom Haus entfernten, kämpfte Lucie mit sich. Wenn überhaupt, dann sollte sie diese Gelegenheit beim Schopf packen. Ohne zu zögern überquerte Lucie die Straße und klingelte. Ein eiskalter Schreck durchfuhr sie, als nicht Bertram Thomas ihr die Tür öffnete, sondern ein Knirps, den sie auf vier bis fünf Jahre schätzte.
»Ist dein Vater zu Hause?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Aber du musst mir sagen, wie du heißt. Ich heiß Daniel und bin schon bald fünf Jahre alt«, entgegnete das Kind, nahm Lucies Hand und zog sie ins Haus.
»Ich bin Lucie.«
»Vater, Lucie ist da!«, krähte der Kleine daraufhin.
»Sie? Welche nette Überraschung.« Mit diesen Worten begrüßte Bertram Thomas, der in demselben Augenblick dazukam, Lucie.
Sie ignorierte den spöttischen Unterton.
»Ist es wohl möglich, dass wir beide uns kurz unter vier Augen sprechen könnten?«
»Bitte, kommen Sie rein. Und du, Daniel, geh auf dein Zimmer!« Lucie zuckte innerlich zusammen in Anbetracht des schroffen Tons, in dem er mit seinem Kind sprach.
»Du hast deinen Papa gleich wieder. Ich bleibe nur ein paar Minuten«, sagte Lucie und lächelte dem Kleinen zu. Er lächelte zurück. Was für ein süßer Junge, dachte sie und musste unwillkürlich an das Baby denken, das Joanne höchstwahrscheinlich von diesem Kerl erwartete.
»Kommst du bald wieder, Lucie? Ich zeige dir dann mein Puppenhaus.«
Bertram Thomas verdrehte die Augen. »Das musst du nicht jedem erzählen, dass du mit Puppen spielst!«
»Ich spiel nicht mit Puppen. Ich baue denen das Haus!«, widersprach der Junge trotzig.
»Auf dein Zimmer. Marsch«, befahl der Doktor. Lucie musste sehr an sich halten, um sich nicht einzumischen. Am liebsten hätte sie das Kind mitgenommen. Doch der Junge schien sich nicht von seinem Vater einschüchtern zu lassen. Statt mit gesenktem Kopf davonzuschleichen, sagte er fröhlich: »Auf Wiedersehen!« und hüpfte die Treppe hinauf.
Lucie schüttelte sich allein bei dem Gedanken, dieser Mann könnte jemals für die Erziehung ihres Enkelkindes verantwortlich sein.
»Kommen Sie. Wir gehen ins Wohnzimmer!«
Lucie schüttelte den Kopf. »Nein, es geht schnell, was ich zu sagen habe.«
»So unerfreulich wie bei unserer letzten Unterredung unter vier Augen?«
»Unerfreulicher!«
»Dann schießen Sie mal los!« Bertram Thomas verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich denke, Sie wissen, in welchen Umständen meine Tochter ist?« Lucie senkte die Stimme aus Sorge, der kleine Daniel können etwas von dem mitbekommen, was sie seinem Vater zu sagen hatte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt kam es darauf an, wie er darauf reagierte. Damit würde sich entscheiden, ob es sich bei der Schwangerschaft um reine Spekulation ihrerseits oder um die Wahrheit handelte.
Das Gesicht des Arztes versteinerte.
Volltreffer, dachte Lucie.
»Und was wollen Sie mir damit sagen? Dass ich Ihre Tochter heiraten muss? Sie werden einsehen, dass ich Ihnen diesen Wunsch nicht erfüllen könnte, selbst wenn ich wollte …« Er grinste.
Bertram Thomas war so überheblich und selbstgerecht, dass Lucie es kaum ertragen konnte. Sie musste sehr an sich halten, um ihm keine Ohrfeige zu versetzen. So wollte sie ihn wenigstens mit Worten treffen, und sie wusste auch schon, wie.
»Ich weiß, Doktor Thomas, es ist stadtbekannt,
Weitere Kostenlose Bücher