Die Maori-Prinzessin
selbst das Grab geschaufelt hatte. Denn nun war es mehr als unwahrscheinlich, dass Joanne ihr jemals ihr Kind überlassen würde. Nun schien alles vorbei!
Joanne schnappte sich wortlos ihren Koffer und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, das Haus.
N APIER , 25. D EZEMBER 1908
Lucie saß allein auf der Terrasse und starrte seit Stunden auf den Eisenholzbaum, der wie zu jedem Weihnachtsfest in voller Blüte stand. Dieses Jahr trägt er besonders viele dieser roten Blüten, sinnierte Lucie, als es an der Haustür läutete. Ob das schon Harakeke ist?, fragte sie sich, während sie zur Tür schlurfte. Seit sie von all ihren Lieben verlassen worden war, fühlte sie sich um Jahre gealtert. Das Kreuz schmerzte, und ihre Knochen taten weh. Ihr war gar nicht zum Feiern zumute, aber Harakeke hatte darauf bestanden, dass am Weihnachtsabend zumindest etwas Festliches auf den Tisch kam. Stella war dabei, einen Lammbraten zuzubereiten, dessen Duft ihr im Haus entgegenwehte.
Sie öffnete die Tür und erstarrte. Vor ihr stand ein Mann, den jemals wiederzusehen, sie sich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Sein Haar war grau, er trug verschlissene Pakeha-Kleidung, und sein Blick wirkte gehetzt. Aber sein Hei-tiki aus Greenstone, das er sichtbar um den Hals trug, glänzte, als wäre es frisch poliert.
»Hehu? Bist du es wirklich?«, entfuhr es ihr zweifelnd.
»Lässt du mich hinein? Sie sind hinter mir her!«, erwiderte er atemlos.
Lucie tat, was er verlangte. Im Flur standen sie einander einen Augenblick wie Fremde gegenüber und maßen sich mit distanzierten Blicken, doch dann warf sich Lucie weinend an seine Brust. »Hehu! Hehu! Du bist der Einzige, der mir noch geblieben ist«, schluchzte sie.
Hehu zog sie an sich und wiegte sie sanft in seinem Arm.
Lucie fühlte sich geborgen, aber plötzlich befreite sie sich aus der Umarmung. Ihr fielen seine Worte ein.
»Wer ist hinter dir her?«
»Meine Brüder und ein paar korrupte Pakeha«, erwiderte Hehu. Er ließ den Blick nicht eine Sekunde von ihr und fügte leise hinzu: »Du bist immer noch schön, Ahorangi!«
Lucie wurde abwechselnd heiß und kalt. Wie lange hatte sie keiner mehr bei ihrem Maorinamen genannt.
»Du musst mir alles erzählen. Der Reihe nach. Du bleibst auf jeden Fall zum Essen. Stella macht Lamm, und Harakeke kommt zum Essen.«
Hehu musterte sie fragend.
»Stell dir vor, meine Schwester hat es damals in meine Nachbarschaft verschlagen. Sie wird sich freuen, dich wiederzusehen. Oder möchtest du dich erst einmal ausruhen? Du siehst aus, als könntest du Schlaf und ein Bad gebrauchen.«
Hehu nickte müde und folgte Lucie erst in die Küche und dann ins Wohnzimmer.
»Was ist geschehen?«, fragte sie und betrachtete ihren alten Freund näher. Er sah entsetzlich aus mit seinen ungepflegten Bartstoppeln und seiner dreckigen Kleidung.
Hehu stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es hat sich vieles geändert in unserem Stamm, seit dein Vater nicht mehr unser Häuptling ist«, entgegnete er schleppend. »Kennst du noch Ahuri?«
»Ja, ist das nicht der widerliche Sohn des Heilers, mit dem mein Vater Harakeke verheiraten wollte?«
Hehu nickte eifrig. »Er ist dank des Einflusses seines Vaters unser Häuptling geworden. Kein glücklicher Nachfolger für Tanahau. Ich habe herausbekommen, dass er heiliges Land an Pakeha verschachert hat, und habe ihn zur Rede gestellt. Daraufhin hat er unter unseren Leuten verbreitet, ich hätte deinen Vater auf dem Gewissen. Dummerweise hatte einer unserer Krieger auf dem Totenbett beschworen, dass unser Häuptling nicht im Kampf gegen Te Kootis Leute gefallen ist, wie ich es stets behauptet habe. Da hatte Ahuri endlich einen Anlass, mir etwas anzuhängen, um mich loszuwerden. Sogar einen Zeugen hat er bestochen, der behauptet, ich hätte ihn damals aus Habgier umgebracht, um seinen Mantel an mich zu bringen. Ich bin nach Gisborne geflüchtet, doch Ahuri und seine sogenannten Geschäftspartner verfolgen mich. Sie haben mir die Polizei auf den Hals gehetzt. Seitdem bin ich auf der Flucht. Als gesuchter Mörder! Sie wollen unbedingt, dass mir der Prozess gemacht wird und ich auf einer Gefangeneninsel an den Pakeha-Seuchen verrecke.«
»O nein. Das geht doch nicht. Bevor sie dich vor Gericht zerren, gestehe ich lieber!«, schrie Lucie entsetzt auf.
»Das kommt gar nicht in Frage. Du hast eine Familie, die du da nicht mit hineinziehen darfst«, protestierte Hehu entschieden.
»Ich habe keine Familie
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