Die Maori-Prinzessin
aufregen, und zwar zu Recht. Weil sie nämlich nicht verstehen konnte, was in Eva gefahren war.
Vielleicht sollte sie ganz auf diesen Spaziergang verzichten. Was versprach sie sich davon? Glaubte sie wirklich, Adrian zu begegnen? Doch sie konnte nicht anders. Es trieb sie zwingend nach draußen. Gemeinsam mit Lucie verließ sie wenig später das Haus. Eiskalter Wind nahm ihr beinahe die Luft zum Atmen, aber trotzdem tat ihr die frische Brise gut. Sie wickelte sich den Schal bis zur Nase, während sie den Weg in die Taranaki Street einschlugen. Hier gab es ein paar interessante Einrichtungsgeschäfte, in denen Eva Anregungen für ihren Auftrag zu bekommen hoffte. So jedenfalls erklärte sie Lucie, was sie so magisch in die Stadt gezogen hatte. Und tatsächlich, für einen kurzen Augenblick lenkte Eva das reichhaltige Angebot an modernen Lampen und Möbeln von ihrem eigentlichen Anliegen ab. Ja, sie fand sogar eine hochmoderne Porzellanvase für ihr neues Haus.
Eva und Lucie waren gerade wieder auf die Straße hinausgetreten, als sich ihnen auf ihrer Seite ein Mann näherte. Eva unterbrach sich mitten im Satz und sah mit offenem Mund in seine Richtung. Vor Schreck ließ sie das Paket mit der Vase los, aber nicht einmal das Klirren des auf dem Boden zerschellenden Gefäßes brachte sie davon ab, den entgegenkommenden Mann wie einen Geist anzustarren. Lucie stierte ebenfalls wie betäubt in seine Richtung, krallte ihre Finger in Evas Mantel und keuchte: »O Gott, lieber Gott!«
Es gab keinen Zweifel. Er war es. Kein Doppelgänger oder sonst eine Täuschung. Nein, es war Adrian Clarke! Evas Knie wurden weich. Sie dachte schon, er würde vorbeigehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen, doch da wandte er ihnen auf einmal den Kopf zu.
»Kann ich Ihnen helfen, meine Damen? Ist Ihnen nicht gut?«, fragte er höflich und ohne die geringste Spur der Erkenntnis in seinen Augen. »Soll ich Ihnen helfen, die Scherben aufzu …«
Er machte Anstalten, sich zu bücken.
»Nein, lassen Sie das liegen«, stieß Eva tonlos hervor.
»Aber … aber, das …«, stammelte Lucie und wollte nach ihm greifen, doch Eva hielt ihre Hand fest.
»Entschuldigen Sie, meine Großmutter glaubt, in jedem hochgewachsenen dunkelhaarigen Lockenkopf ihren Enkel zu erkennen, aber der ist beim Erdbeben in der Hawke’s Bay verschüttet worden.« Eva zitterte am ganzen Körper. Sie betete, dass ihm dieser Wink auf die Sprünge helfen würde.
Sein Blick wurde traurig, allerdings ohne ein Zeichen der Erinnerung.
»Ach ja, dieses verdammte Erdbeben. Mein Leben hat es auch zerstört. Es gibt in der ganzen Hawke’s Bay keinen einzigen Mister Grant, der vermisst wird. Es ist zum Verzweifeln.«
»Der Name meines Enkels ist Adrian. Adrian Clarke. Wir wohnten in Napier in der Cameron Road«, keuchte Lucie, doch der Mann, der ihm zum Verwechseln ähnlich war und der mit seiner Stimme sprach, zeigte keinerlei Reaktion. Stattdessen blieb sein Blick an Evas Gesicht hängen. »Wir müssen alle damit leben. Mehr schlecht als recht«, seufzte er und ging; dann drehte er sich noch einmal um: »Sie haben wunderschöne Augen«, murmelte er, bevor er in der Menge verschwand.
»Ich, nein, ich …«, stammelte Lucie, bevor sie ins Wanken kam. Eva konnte sie noch rechtzeitig auffangen. Die Besitzer des Einrichtungsgeschäft hatten von drinnen beobachtet, dass der alten Dame schwindlig geworden war, und kamen herbeigeeilt. Lucie wurde auf ein Sofa gelegt.
Ihre Sorge um Lucies Zustand ließ sie zunächst gar nicht zum Nachdenken kommen. Erst als diese ihre Augen wieder öffnete und ächzte: »Wo ist er?«, wurde Eva klar, dass sie eben auf der Straße kein Gespenst gesehen hatten, sondern Adrian Clarke, ihren Ehemann, der sich an diese Tatsache jedoch nicht mehr zu erinnern schien.
N APIER , D EZEMBER 1908
Joanne stand mit gepacktem Koffer im Hausflur und funkelte Lucie angriffslustig an. »Ich weiß, dass du dahintersteckst«, brüllte sie, die Wangen vor Zorn gerötet.
Lucie hingegen wich jegliche Farbe aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst!«, log sie.
»Tu nicht so scheinheilig. Du hast es gewusst, und ich weiß nicht, wie du es angestellt hast, aber Bertram will mich nicht mehr sehen.«
»Bertram?«, wiederholte Lucie mit gespielter Verwunderung. »Was hast du mit Bertram zu tun? Ich denke, du willst John Clarke heiraten.«
»Du bist nicht gut im Lügen. Ich sehe dir an, dass du etwas damit zu tun hast. Dass du Bertram dazu gebracht hast, mich
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