Die Marionette
aufzulösen und das Bewusstsein in einen Zustand der Klarheit zu bringen, der die volle Konzentration auf das Wesentliche zuließ.
Milan Vieth war tot.
Sie hatte ihn nicht schützen können. Sie hatte versagt. Aber deswegen war sie nicht hier. Sie erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als er starb. Als ihm bewusst wurde, dass es vorbei war. Er hatte dagegen gekämpft. Nicht aus Angst vor dem Tod, dem Endgültigen, sondern in dem Bewusstsein, dass er nicht gehen konnte, durfte, weil seine Aufgabe nicht vollendet war.
Sibylle wusste, dass Katja bei ihm gewesen, dass sie zusammen unterwegs gewesen waren. Sie würde die richtigen Fragen stellen, sobald sie den ersten Schock überwunden hatte und wieder mehr wahrnehmen konnte als nur den Schmerz. Bei diesem Gedanken fragte sich Katja unwillkürlich, ob sich Milan Vieth der tatsächlichen Stärke bewusst gewesen war, die sich hinter dem zerbrechlichen Äußeren seiner Frau verbarg.
Draußen auf der Straße rauschte der Verkehr vorbei. Reifen quietschten, Hupen, das Zischen einer hydraulischen Lkw-Bremse. Zwei Frauen mit einem Kinderwagen überquerten die Kreuzung, die in strahlendem Sonnenlicht lag. Es war eine Welt, die Katja fast greifen konnte, so nah war sie und gleichzeitig so unerreichbar, als blicke sie in ein anderes Universum, getrennt durch eine unsichtbare, unüberbrückbare Barriere. Sie beobachtete diese Welt, seit sich am Morgen die Tür ihrer Zelle im vierten Stock des Hamburger Untersuchungsgefängnisses hinter ihr geschlossen hatte. Und sie wurde nicht müde, darüber nachzudenken, wie sie diese Barriere überwinden konnte.
Das Geräusch von Metall auf Metall schreckte sie aus ihren Gedanken. Das leise Ächzen ihrer Zellentür, die auf den Gefängnisgang aufschwang. Katja drehte sich nicht um.
»Frau Rittmer, kommen Sie bitte mit.«
Handschellen schnappten um ihre Handgelenke. Sie fragte sich, was Eric über sie erzählt hatte. Es schien beinahe, als hätten sie Angst vor ihr. Es war lächerlich.
Sie brachten sie in einen Besucherraum. Eine Frau erwartete sie dort. Sie trug ihr langes dunkles Haar sorgfältig aufgesteckt, ihr Kostüm war von klassischem Schnitt.
»Wir haben wenig Zeit«, begrüßte sie sie. »Ich bin Anwältin und werde Ihnen helfen, schnellstmöglich freizukommen.« Sie öffnete ihre Tasche und zog einige Unterlagen heraus. Katja betrachtete die schlanke Frau fasziniert. Nach mehr als zehn Jahren im Einsatz an den verschiedensten Fronten erkannte sie einen Kämpfer, wenn sie ihn sah.
»Sibylle Vieth hat mich beauftragt, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen«, fuhr die Frau fort. »Mein Name ist Valerie Weymann.«
Katja setzte sich langsam. Sie hatte von ihr gehört. Sie wusste nicht, in welchem Zusammenhang, aber …
»Ich brauche Ihre Unterschrift für die Prozessvollmacht.« Valerie Weymann schob ungerührt von Katjas Schweigen die Unterlagen und einen Kugelschreiber über den Tisch.
Die Buchstaben tanzten vor Katjas Augen, als sie den Stift in die Hand nahm. »Wie … geht es Frau Vieth?«, fragte sie und war überrascht, wie rauh ihre Stimme klang. Sie hatte seit dem Unfall kein Wort mehr gesprochen.
»Den Umständen entsprechend«, erwiderte Valerie Weymann. »Sie ist im Krankenhaus.«
»Und das Kind?«
»Alles in Ordnung.«
Katja schob die unterschriebenen Papiere zurück. Die Anwältin verstaute sie in ihrer Tasche, setzte sich ihr gegenüber und faltete die Hände ineinander. »Sibylle Vieth hat mir erzählt, dass Sie von der amerikanischen Regierung als Personenschützerin für Milan Vieth empfohlen worden sind.«
Katja nickte nur kurz und ignorierte die Frage, die sich hinter den Worten der Anwältin verbarg.
Valerie Weymann räusperte sich. »Sie waren im Wagen, als er starb.«
Wieder nickte Katja.
»Was genau ist passiert?«
Katja erzählte mit knappen Worten von Vieths plötzlicher Benommenheit, wie der Wagen außer Kontrolle geriet und gegen einen Baum prallte.
»War Milan sofort tot?«
»Nein …«
»Hat er noch etwas gesagt?«
Katja sah auf ihre Hände. Milan Vieth hatte keinen einfachen Tod gehabt. Aber das ging nur sie und ihn etwas an. Niemand würde je davon erfahren. Sie spürte Valerie Weymanns Blick auf sich. »Ich kann nur mit Ihnen arbeiten, wenn Sie ehrlich zu mir sind«, sagte die Anwältin.
»Ich weiß«, erwiderte Katja. »Aber es gibt nichts mehr zu sagen.«
Valerie stand auf. »Ich habe gleich im Anschluss an unser Gespräch einen Termin mit dem Richter. Wenn alles gutgeht, sind
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