Die Marionette
müssen, und das hatte sie letztlich gerettet. Doch manchmal, an Tagen wie diesem, wenn sie allein schon bei der Nennung eines Namens einen Schweißausbruch bekam, wusste sie, dass ihr Kampf andauerte, dass sie noch immer einen Feldzug führte gegen die Dämonen in ihrem Kopf. Was hatte Katja Rittmer erlebt, welche Geister, welche Bilder quälten sie?
Valerie stellte sich diese Fragen erneut, als sie Katja auf Milan Vieths Beerdigung erblickte. Die Soldatin stand ein Stück entfernt vom eigentlichen Geschehen zwischen den alten Friedhofsbäumen und betrachtete misstrauisch die Umgebung.
Es war eine kurze Zeremonie, von der nur Bruchstücke in Valeries Erinnerung haften blieben: Milans Name auf einem Grabstein. Menschen, die mit leisen Worten ihr Mitgefühl ausdrückten. Und über allem weicher, milder Frühlingswind, das Jubilieren der Vögel, aufbrechende Knospen. Sibylle und Milan gehörten keiner Kirche oder Glaubensgemeinschaft an. Ein Freund der Familie hielt die Trauerrede am offenen Grab, später würden einige besonders enge Freunde Sibylle nach Hause begleiten. Valerie fragte sich, wie es sein musste, in ein Haus zurückzukehren, das so voller Erinnerungen war, dass es einem die Luft abschnürte. Am schlimmsten sei das Erwachen, hatte Sibylle ihr im Krankenhaus gestanden. Schlaf war Vergessen, war Geborgenheit, war Traum. Doch der Morgen brachte aufs Neue das Bewusstsein des endgültigen Verlustes, gefolgt von der grauen Leere, mit der sich das Leben mit einem Mal ausdehnte. »Das Kind ist ihre Rettung«, hatte Meisenberg gesagt, als Valerie ihm davon erzählt hatte. »Wollen wir nur hoffen, dass sie es nicht verliert.«
Nach der Zeremonie stand Katja Rittmer plötzlich neben Valerie. »Haben Sie Zeit?«, fragte sie, während ihr Blick unaufhörlich über die Menschen in ihrer näheren Umgebung strich. Keine Begrüßung, kein Smalltalk.
Valerie überlegte nicht lange. »Ja, natürlich. Kommen Sie.« Sie sah sich nach Marc um, der mit Meisenberg und einem Vertreter des Hamburger Senats zusammenstand, und gab ihm ein Zeichen, bevor sie mit Katja davonging.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte diese und zog ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche ihrer alten Armeejacke. Sie bot Valerie eine an, die dankend ablehnte und beobachtete, wie die große blonde Frau den Rauch tief einatmete.
Sie setzten sich auf eine Bank in einem der Seitenwege. Ein verwitterter Engel blickte von einer der Grabstellen auf sie herab, und Valerie bemerkte, wie Katjas Blick daran hängenblieb, wie sich ihre Züge einen Atemzug lang glätteten und ihr den Ausdruck der jungen, unbeschwerten Frau verliehen, die sie vielleicht einmal gewesen war.
»Sie sagten, Sie brauchen meine Hilfe«, bemerkte Valerie.
Die Härte kehrte zurück in Katjas Züge. »Die Bundeswehr macht mich für den Tod eines Soldaten meiner Einheit in Afghanistan verantwortlich. Es wird zu einem Verfahren kommen. Ich brauche einen Anwalt.«
Es hat einen internen Zwischenfall gegeben.
War es das, wovon Wetzel gesprochen hatte? Valerie räusperte sich. »Ich bin keine Strafverteidigerin.«
»Das weiß ich.« Katja Rittmer setzte sich auf und lehnte sich etwas vor. »Aber Sie sind eine außergewöhnliche Anwältin. Und Sie haben Erfahrung mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Ich meine, nicht nur klinisch.« Katja fixierte sie scharf. »Sie wissen sehr genau, was es heißt, mit einer solchen Störung zu leben.«
Valerie schürzte die Lippen. Woher hatte Katja diese Information? »Wie ist es zum Tod des Mannes gekommen?«, fragte sie konsterniert.
Katja senkte den Blick. Und Valerie wartete, während die Frau neben ihr ihre Zigarette ausdrückte. Zeit gewann. »Es war nach einem Gefecht«, begann Katja schließlich, ihre rauchige Stimme bar jeglicher Emotion. »Ich war mir sicher, dass er im Sterben lag. Eine Granate hatte seine Bauchdecke zerfetzt. Ich habe ihm Morphium gegeben, um ihm das Sterben zu erleichtern. Angeblich war die Dosis zu hoch.«
Valerie hatte sich gefragt, welche Bilder Katja quälen mochten. Welche Geister in ihrem Kopf spukten. »Ich nehme an, das ist nicht das erste Mal, das Sie sich in einer solchen Situation befanden«, bemerkte sie.
Katja ließ das Feuerzeug durch ihre Finger tanzen, das so zierlich wirkte in ihren kräftigen Händen, die vermutlich ebenso häufig ein Gewehr hielten.
»Haben Sie schon einmal mit Psychologen über diese Erlebnisse gesprochen?«, fragte sie.
Das Feuerzeug hörte auf zu tanzen. Katja schwieg
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