Die Marionette
reichte sie ihr. »Rufen Sie bitte, wenn Sie fertig sind. Ich warte im Nebenraum.«
Behutsam klappte Valerie den Deckel zurück, nicht sicher, was sie finden würde. Die Lade war leer bis auf zwei CDs, säuberlich in Hüllen verpackt, unbeschriftet. Keine Schriftstücke, kein Brief, nichts. Sie war fast erleichtert. Den ganzen Weg hierher hatte sie die Vorstellung belastet, sie würde einen Brief von Milan finden, den sie Sibylle übergeben musste.
Wäre es das nur gewesen.
Als sie wenig später die erste CD in ihren Laptop steckte, tauchte Milan Vieths Gesicht auf dem Bildschirm auf. Sie starrte ihn ungläubig an, bevor sie die Starttaste des Videos betätigte. Und ihr wurde klar, dass ein Brief die einfachere Variante gewesen wäre.
Milan sah sie direkt an. Er wirkte müde, aber nicht gehetzt. Was er zu erzählen hatte, trieb Valerie den Schweiß auf die Stirn. Nach zehn Minuten schaltete sie ab und holte sich einen Kaffee, klappte ihren Laptop zu und starrte aus dem Fenster ihres Büros auf die Binnenalster. In einer schimmernden Fontäne stob das Wasser in der Mitte des Sees empor, fing das Licht und brach es in den Farben des Regenbogens, so dass die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser dahinter verschwammen.
Sie saß lange so. Reglos und schweigend. Dann drehte sie sich zurück zu ihrem Schreibtisch und suchte aus ihrem Karteikasten Florian Wetzels Visitenkarte heraus. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, wählte sie die Nummer, die darauf angegeben war. Wetzel meldete sich sofort. Er war überrascht, das hörte sie an seiner Stimme.
»Herr Wetzel, ich nehme an, Herr Mayer ist noch nicht wieder zurück?«, sagte Valerie.
»Nein, tut mir leid.«
Ein letzter Blick auf ihren zugeklappten Laptop. »Ich fürchte, dann müssen Sie mir weiterhelfen. Können wir uns treffen?«
Sie hörte, wie er sich räusperte. »Ja … natürlich.«
Das Café in der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle lag nur wenige Gehminuten von der Kanzlei entfernt. Als Wetzel eine knappe dreiviertel Stunde später den weitläufigen, zur Alster hin verglasten Raum betrat, bemerkte Valerie mit einem Lächeln, wie jungenhaft er in seiner Jeans wirkte, als er ihr schüchtern unter seinem wirren Haarschopf hervor zunickte. Tatsächlich wirkte er nicht älter als Mitte zwanzig. Sie war versucht, ihn nach seinem Alter zu fragen, unterließ es aber angesichts seiner Nervosität. »Vielen Dank, dass Sie dieses Treffen so schnell möglich machen konnten«, sagte sie stattdessen.
Er lächelte zurückhaltend. »Was gibt es denn so Dringendes?«
Valerie zog ihren Laptop aus ihrer Aktentasche, reichte Wetzel ein paar Kopfhörer, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er so saß, dass niemand den Bildschirm einsehen konnte, und spielte das Video ab.
Wetzel starrte zunächst neugierig darauf, doch Valerie konnte sehen, wie sich sein Gesicht veränderte. Es dauerte nicht lange, bis er die CD anhielt und die Kopfhörer absetzte. Er sah sie auf eine Weise an, dass sie sich plötzlich fragte, wie viel von seinem lässig jugendlichen Auftreten und seiner zur Schau gestellten Schüchternheit wirklich authentisch war und wie viel einfach nur sein Gegenüber in Sicherheit wiegen sollte. »Wer kennt das außer uns beiden?«, fragte er ohne jede Spur der vorher gezeigten Unsicherheit in der Stimme.
»Niemand.«
Wetzel nickte nachdenklich, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wir müssen Sibylle Vieth unter Personenschutz stellen.«
»Deswegen habe ich Ihnen das gezeigt«, sagte Valerie. »Deswegen und …«
»Ich weiß«, fiel Wetzel ihr ins Wort. »Hier ist nicht der richtige Ort, um darüber zu sprechen. Wir haben ein Büro im Polizeipräsidium … Oh, tut mir leid«, unterbrach er sich selbst, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Wir können natürlich auch in Ihre Kanzlei gehen.«
Sie dachte an Meisenberg. »Ich glaube, ich schaffe das schon.«
»Wie Sie meinen.«
Sie fuhren in Wetzels Wagen zum Präsidium. »Dieser Hagedorn in Berlin, von dem Milan Vieth spricht«, begann sie, sobald sie im Auto saßen. »Wie kann man den am besten erreichen?«
»Was ich Ihnen jetzt sagen werde, Frau Weymann, wird Ihnen nicht gefallen«, antwortete Wetzel, den Blick starr geradeaus auf den Verkehr gerichtet. »Rudolf Hagedorn hat sich das Leben genommen, nachdem er von Milan Vieths Tod erfahren hat.«
Eine Welle der Übelkeit stieg in Valerie auf. Was bislang abstrakt war, nahm Gestalt an. Sie erinnerte sich an ihr Essen mit
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