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Die Marionette

Die Marionette

Titel: Die Marionette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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genommen hätte, wenn die Parameter nur ein wenig anders gewesen wären. Ob sie vielleicht alle noch leben würden, wenn sie Luftunterstützung gehabt hätten. Hatte es Hinweise, Warnungen gegeben, die nicht beachtet worden waren? Der Auftrag war Routine gewesen. Alltag. Das allein war schon Risiko genug. Sie erinnerte sich an absurde Kleinigkeiten. An den Kaffeefleck auf der Uniform ihres Beifahrers. An das Wortgeplänkel, das sie hatten, weil die Jungs beim Frühstück wieder einmal nur ein Thema beschäftigt hatte. Und plötzlich der Knall.
    Die Buchstaben auf dem Monitor des Laptops tanzten vor ihren Augen. Siebenundzwanzig neue Mails.
    Mit einem Klick öffnete sie das Postfach, überflog die Absender und Betreffzeilen und verschob die Nachrichten ungeöffnet in den Papierkorb. Alle, bis auf eine. Lange, sehr lange starrte sie auf den Absender. In der Betreffzeile stand nur ein Wort:
Chris.
    Hätte sie sich anders verhalten, wenn sie dort zwischen den Felsen gewusst hätte, was mit Chris geschehen war? Dass er sechzig Kilometer von ihr entfernt eingeklemmt unter einem Fahrzeug lag, die Beine zerquetscht?
    Ihre Hände zitterten. Eric Mayer war der Einzige, der Chris so gut gekannt hatte wie sie. Vielleicht sogar noch besser. Sie schob den Cursor auf
Öffnen.
     
    Katja, ich habe gerade davon erfahren. Bitte melde dich. Chris hätte nicht gewollt, dass du jetzt allein bist. Eric
     
    Keine Beileidsbekundungen, keine langen Worte. So, wie Eric eben war. Klar und direkt. Verlässlich. Sie wünschte sich plötzlich, er wäre bei ihr und sie könnte Zuflucht suchen in seinem Arm. Seine Nähe spüren. So wie in jener Nacht in Hamburg. Er war bei ihr geblieben, hatte sie festgehalten, ihr die Locken aus dem Gesicht gestrichen und leise mit ihr gesprochen, wie mit einem Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet. Seine Stimme hatte sie in ihre Träume begleitet und ihnen die Bedrohung genommen.
     
    Bitte melde dich.
     
    Sie drückte auf
Antworten.
Ein neues Textfeld öffnete sich, doch ihre Finger verharrten über der Tastatur. Er hatte ihr
vor
dem Anschlag geschrieben. Bevor sie auf den Verteidigungsminister geschossen und an seiner statt einen Sicherheitsbeamten getroffen hatte.
     
    Chris hätte nicht gewollt, dass du jetzt allein bist.
     
    Die Zeilen verschwammen vor ihren Augen. Tränen liefen über ihre Wangen, und sie atmete gegen den stechenden Schmerz in ihrer Brust an, diese Wunde, die immer größer wurde. Die Einsamkeit ist wie ein Tier, das dich von innen heraus zerreißt, hatte ihre Großmutter einmal gesagt. Großmutter, die den Mann im Krieg verloren hatte, wie sie immer erzählte. Katja meinte wieder ihre resolute, leicht brüchige Altfrauenstimme zu hören: ›Nicht die Jahre des Wartens auf seine Rückkehr, die Briefe, die plötzlich ausblieben, oder die Ungewissheit waren das Schlimme gewesen.‹ Voller Hoffnung war die Großmutter gewesen, trotz des Krieges und der Angst, eine Hoffnung, die getragen wurde von dem letzten Bild, das sie von ihrem Mann verinnerlicht hatte: dem Blick, der in seinen Augen gelegen hatte, der letzten Berührung seiner Hand aus dem Zugfenster heraus, dem langsamen, unvermeidlichen Lösen der Finger voneinander, als die Lok Fahrt aufnahm und ihn fortbrachte an die Front. Diese Erinnerung, die sie in sich getragen hatte wie einen Schatz, wie das Kind, das sie von ihm erwartete. Die sie hatte kämpfen und durchhalten lassen und die jäh zerbrach, als er zehn Jahre später aus einem anderen Zug ausstieg, nach vier Jahren Krieg und sechs Jahren Gefangenschaft, als sie ihm mit dem Kind an der Hand gegenüberstand und feststellen musste, dass sie in die Augen eines Fremden blickte. »Da hat das Tier zu fressen begonnen«, hatte sie gesagt. Katja erinnerte sich, wie sie in das Gesicht ihrer Großmutter geblickt und nach den Spuren gesucht hatte, die dieses Tier hinterlassen hatte, aber da war nichts gewesen, außer einer großen Leere – derselben Leere, die jetzt in ihrem Inneren tobte, wenn sie an das Foto vor Chris’ flaggenverhülltem Sarg dachte. Wie von allein huschten ihre Finger über die Tastatur ihres Computers.
     
    Es ist vorbei, Eric. Alles ist vorbei. Ich kann nicht mehr zurück. Jetzt nicht mehr.
    Sie schluckte. Atmete.
    Ich wollte, du wärst hier.
     
    Sie drückte auf
Senden
und klappte den Laptop zu. Sie war so müde, so entsetzlich müde und wusste doch, dass sie nicht schlafen würde. Dass die Träume kamen, sobald sie die Augen schloss. Sie wusste nicht,

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