Die Marionette
rund um die Uhr. Sie konnte es noch immer nicht ganz glauben und fühlte sich wie neugeboren. Der letzte Abend war zu einem surrealen Traum verschwommen. Eine Mischung aus Dunkelheit und Regen, Kälte und einer abgrundtiefen Verzweiflung. Sie erinnerte sich an den Revolver in ihrer Hand und die wortlose Frage in Sibylles Augen. »Nein«, hatte sie nur gesagt. »Ich will Ihnen nichts tun. Ich brauche Ihre Hilfe.«
Sibylle hatte verstanden. Sie in Sicherheit gebracht.
»Sie haben Ihnen genauso den Mann genommen wie mir«, hatte Katja gesagt. »Ich will, dass sie dafür zahlen.«
Und Sibylle, diese Frau mit dem zarten Äußeren, hatte genickt. »Was muss ich tun?«, hatte sie lediglich gefragt.
»Sie müssen gar nichts tun. Sie bekommen ein Kind. Ihnen darf nichts geschehen«, hatte Katja geantwortet. Daran erinnerte sie sich noch. »Ich brauche nur ein Passwort, einen Code …«
Sibylle hatte gewusst, wovon sie sprach. »Was hat Milan Ihnen erzählt?«
»Nicht viel.« Er hatte keine Zeit mehr gehabt. Der Tod war zu schnell gekommen. »Nicht genug.«
Milan hatte seine Informationen verteilt und damit abgesichert. Jeder hatte ein Puzzleteil erhalten, und nur zusammen ergaben sie ein Bild. Nur zusammen würden sie es schaffen. Sibylle hatte Katja einen Zettel und einen Stift gereicht. »Schreiben Sie.« Sie hatte die Zugangsdaten auswendig gelernt, die Katja den Zugriff auf die Datenbanken der Larenz-Werke ermöglichen sollten. Die nötige Software hatte sie bereits.
»Mit wem haben Sie noch gesprochen?«, hatte Katja gefragt und ihren Laptop aus dem Rucksack geholt.
»Valerie Weymann«, war Sibylles Antwort gewesen. »Sie hat den Schließfachschlüssel. Milan hatte Kontakt zu einem britischen Journalisten.«
Während sie sprachen, hatte Katja ihren Computer eingeschaltet und die Verbindung zu der Kamera hergestellt, die sie in dem alten Gasthof in einem kleinen Ort irgendwo in Nordhessen installiert hatte. Sie lauschte Sibylles ruhiger Stimme, schwenkte das Objektiv und versicherte sich, dass niemand in der Nähe des einsam gelegenen Gebäudes war. Dann hatte sie ihr Handy aus der Tasche gezogen und die Fernzündung ausgelöst.
Sibylle hatte sie fragend angesehen. »Was machen Sie da?«
»Nichts weiter«, hatte Katja gesagt und beobachtet, wie das Bild auf ihrem Monitor schwarz wurde.
Die nächsten Stunden hatte sie im Firmennetzwerk der Larenz-Werke verbracht. Sibylle war neben ihr auf dem Sofa eingeschlafen, bis zum Kinn unter einer Wolldecke verborgen. Zwei Frauen, die einsamer nicht sein konnten. Sie hatte sich gefragt, ob sie Sibylle um das Kind beneidete. Wie es sich anfühlen musste, von dem Mann, den man liebte, geliebt hatte, etwas Lebendiges in sich zu tragen. Etwas, das blieb, auch wenn er gegangen war. Katja hatte sich um den Gedanken herumgetastet, während sie immer tiefer in das digitale Imperium der Larenz-Werke eingetaucht war, und war zu dem Schluss gekommen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, Mutter zu sein. Ihr Leben zu teilen. Sibylle bewegte sich neben ihr, murmelte etwas im Schlaf. Sie hatte einen konkreten Verdacht geäußert. Aber Katja konnte erst handeln, wenn sie Beweise hatte. Und trotz der Zugangsdaten war es alles andere als ein Kinderspiel gewesen, diese Beweise zu finden. Gerwin Bender war ein vorsichtiger Mann.
Ein Sonnenstrahl fand seinen Weg in das Gästezimmer, in dem Katja übernachtet hatte, verfing sich in Sibylles kinnlangem Haar. »Haben Sie heute Nacht gefunden, was Sie gesucht haben?«, fragte sie.
Katja nickte. Ihre Hybris verleitete sie letztlich alle irgendwann, Fehler zu machen. Sich für unverwundbar zu halten. Auch Bender war davor nicht gefeit. Sibylle stand auf und nahm einen Umschlag von dem kleinen Schreibtisch, der im Gästezimmer vor dem Fenster stand. Sie zog eine Karte heraus und reichte sie Katja. Es war eine Eintrittskarte. Katja drehte sie nachdenklich in ihrer Hand.
»Er wird dort sein«, sagte Sibylle ruhig.
Sie tauschten einen langen, schweigenden Blick.
***
Berlin/Hamburg, Deutschland
Gerwin Bender erfuhr telefonisch vom Einbruch in das Firmennetzwerk. Er war gerade dabei, seinen Koffer zu schließen, das Handy ans Ohr geklemmt. In der nächsten Stunde würde er Berlin verlassen. Man erwartete ihn bereits in Hamburg.
»Die Täter haben sich völlig legal über einen VPN -Zugang eingeloggt, dabei jedoch einen nicht registrierten Rechner benutzt«, informierte ihn der Leiter der EDV -Abteilung.
»Wie ist das möglich?«
»Es sollte
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