Die Marketenderin
ab. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn du umkehrst, hatte er sagen wollen. Aber dann hätte er ihr auch mitteilen müssen, was er wirklich dachte. Und das wäre Hochverrat nahegekommen. Wie stolz war er gewesen, als man ihn dazu ausersehen hatte, große Aufgaben für die Große Armee zu erfüllen, und er hatte mit Begeisterung, Pflichtgefühl und Glauben an die Sache seine Arbeit aufgenommen.
Von Röder hatte ihn damit ausgezeichnet, als Quartiermacher voranzureiten, eben weil er ihn als Individualisten erkannt hatte, der hervorragend funktionierte, wenn er auf eigene Faust vorging. Aber er hatte übersehen, daß ein vom Troß losgelöster Gerter eigene Erfahrungen machen würde, die ihn den Gesamtauftrag in Frage stellen lassen würden. Gerter, der unterwegs erfuhr, wie viele Mißverständnisse schon zwischen Bayern, Preußen und Westfalen zu erbitterten Streitereien in den eigenen Reihen geführt hatten, fragte sich, wie denn der Zusammenhalt einer völkerübergreifenden Armee möglich sein sollte, wenn nicht einmal ein Deutscher die Mentalität eines anderen und – angesichts der unterschiedlichen Dialekte – manchmal nicht einmal dessen Sprache verstand.
Seine Uniform sorgte dafür, daß er mit den Polen, die er unterwegs traf, keine Schwierigkeiten hatte. Sie gaben ihm vom Letzten ab, das sie besaßen. Er gehörte schließlich der Armee an, die ihren Erzfeind besiegen und ihrem Volk Freiheit bringen würde. Des Russen Feind war ihr Freund. Einige Polen sprachen Deutsch oder Französisch und von ihnen erfuhr Gerter, daß Napoleon im Land allergrößtes Ansehen genoß, nicht zuletzt deshalb, weil er hohe Posten in seiner Armee durch polnische Offiziere besetzt hatte. Dieser Schachzug nötigte ihm Bewunderung ab. Er fragte sich, ob er Napoleon nicht doch unterschätzt hatte. Bisher war er allzu bereit gewesen, ihn als einen zwar genialen, aber leicht größenwahnsinnigen Feldherrn zu sehen, dem Menschen nichts, aber Ruhm alles bedeutete.
Er wurde nachdenklich, als er hörte, daß Napoleon die Peitschenstrafe in der Armee abgeschafft hatte und es beeindruckte ihn auch, daß Napoleon persönlich auf jedes Schlachtfeld ritt. Er verdrängte den Gedanken, daß die Krankheit des württembergischen Kronprinzen vielleicht eine diplomatische sein könnte, oder einfach eine Entschuldigung, sich vor der Verantwortung zu drücken. Von Napoleon kannte man so etwas nicht. Man wußte, daß er unter grausamen Magenschmerzen litt, aber er war zur Stelle, wenn gekämpft wurde. Höchstpersönlich.
Mit dem europäischen Gedanken tat sich Gerter so schwer wie alle anderen Württemberger auch. Er las einen Bericht, wonach Napoleon zu seinem ehemaligen Polizeiminister Fouché gesagt haben sollte: »Mein Schicksal hat sich noch nicht erfüllt. Es darf für ganz Europa nur ein Gesetzbuch, nur ein Appellationsgericht und nur eine Währung geben. Die Staaten Europas müssen zu einer Nation verschmolzen werden.«
Leicht gesagt, dachte Gerter, wie soll das denn gehen? Die Tage, in denen er, nur von Felix begleitet, von Lager zu Lager geritten war, Magazine untersucht und Quartiere ausfindig gemacht hatte, hatten ihn mehr über Europa gelehrt, als jede theoretische Abhandlung. Er erlebte, wie halbherzig einige Länder mitmachten, wie sich vor allem Spanier und Holländer heimlich von der Armee entfernten und wie grausam Deserteure behandelt wurden. Wie Soldaten der einen Nation die der anderen mißtrauisch beäugten und selbst in den zusammengewürfelten Regimentern die Nationen unter sich blieben. Er war zugegen, als eine Gruppe von 130 weggelaufenen Spaniern wieder eingefangen wurde und der französische Hauptmann Zettel unter ihnen verteilte – die Hälfte weiß, die Hälfte schwarz, und wie ohne weiteres Gerichtsverfahren diejenigen mit den schwarzen Zetteln erschossen wurden.
Litauische Soldaten hatten die Spanier aufgespürt und als sich Johannes mit ihnen unterhielt, erschrak er über ihre bedingungslose Loyalität gegenüber Napoleon und bewunderte gleichzeitig ihren von keinem Zweifel getrübten Glauben an die Mission.
»Er wird unser Land befreien«, hörte er immer wieder. Diesen Spruch kannte er schon von den Polen und er hütete sich, ihn zu kommentieren.
Trotzdem versuchte er mit einem litauischen Offizier über standrechtliche Erschießung zu diskutieren. Ein Abend, an den er mit Schaudern zurückdachte. Die Litauer hatten es trotz der schlimmen Versorgungslage fertiggebracht, in einem der großen
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