Die Marketenderin
geschwächten Mägen der Männer vorerst nur kleine Portionen verdauen könnten. Er versicherte ihr, daß ihre Hilfe jetzt nicht mehr so dringend gebraucht würde und daß sie sich guten Gewissens wieder um ihre eigentliche Arbeit kümmern könnte.
Da Matthäus Gerter weiterhin direkt unterstellt war, schloß sich das Ehepaar der großen Gruppe von Rekonvaleszenten an, die mit dem Oberleutnant am Morgen des 19. Juli aufbrach. Spitalarzt von Ölhafen umarmte Gerter und wollte ihm eine Empfehlung an das Generalkommando aufdrängen, was er aber ausschlug. Er wollte keinen Orden, sondern erbat sich lieber einen Auftrag, der ihm offiziell mehr Bewegungsspielraum einräumte. Er hatte auf eigene Faust das Lebensmittelunternehmen geleitet und wieder gesehen, daß er am besten funktionierte, wenn man ihm freie Hand ließ. Er war überzeugt, daß Eugen von Röder seinen Antrag unterstützen würde, denn der Oberst hatte schon mehrfach seinen Einfallsreichtum gelobt und bemerkt, daß man die Lehrbücher für diesen Feldzug selbst schreiben müsse. Johannes Gerter konnte jetzt noch nicht wissen, daß ihm seine Unabhängigkeit später das Leben retten würde.
Während er mit der Schar der Rekonvaleszenten den Weg nach Broslaw einschlug, konnte er auch nicht wissen, daß bei Witebsk eine bedeutende Schlacht im Gang war. In den dreitägigen Kämpfen sollten auf beiden Seiten je mehr als 5000 Mann ihr Leben verlieren. Er ahnte auch nicht, daß der russische General Essen aus Angst vor dem Vormarsch der Preußen – den einstigen russischen Verbündeten – gerade die Vorstädte von Riga in Brand setzen ließ, ohne die Bewohner vorher davon zu informieren. Hunderte kamen in den Flammen um und Tausende wurden obdachlos.
Vor dem Aufbruch hatte Juliane Gerter gefragt, woher er denn wüßte, welchen Weg die Armeekorps eingeschlagen hätten. Er hatte sie ein wenig seltsam angesehen und ihr geraten, unterwegs nicht nach rechts oder links, sondern immer nur geradeaus zu schauen. Doch selbst, wenn sie sich an diesen Rat gehalten hätte, wäre ihr schnell aufgegangen, was ihnen den Weg wies. Sie band sich ein mit Rosenwasser beträufeltes dünnes Tuch vors Gesicht, das nur die fast schwarzen Augen freiließ. Sonst hätte sie den Gestank der zahllosen verwesenden Leichname von Soldaten und Pferden zu beiden Seiten der Heerstraße nicht aushalten können.
Noch schlimmer wurde es, als sie in sengender Hitze die Straße nach Witebsk einschlugen und vier Stunden lang an dem inzwischen gespenstisch stillen Schlachtfeld vorbeizogen, das mit Toten übersät war.
»Willst du immer noch Trommler werden?« fragte Juliane Jakob, der neben ihr auf dem Bock saß und mit großen Augen um sich blickte. Sie deutete auf einen kleinen, von Fliegen umschwärmten Körper, gegen dessen bestialischen Gestank das Rosenwassertuch wirkungslos war. In der ausgestreckten Hand des Toten steckte ein Trommelstock.
»Natürlich«, antwortete Jakob zu ihrem Entsetzen. »Jetzt wird doch ein neuer Trommler gebraucht.«
Sie war heilfroh, als sie die lange Pestgasse verließen und am 8. August in Witebsk einrückten. Endlich eine Stadt, wenn auch ganze Straßenzüge zerstört waren, endlich lebende Menschen, wenn auch beinahe nur Soldaten.
Matthäus und Gerter hatten sich aufgemacht, den Verbleib der württembergischen Division zu erkunden und die neuesten Meldungen über die Lage einzuholen.
Was sie hörten, ermutigte sie. Die Große Armee hatte einen riesigen Bogen von der Mündung der Dyna an der Ostsee über Witebsk, zum Dnjepr, über die Mündung der Beresina bis zum Bug gebildet. Litauen und Kurland waren besetzt worden, ohne daß es zu einer großen Schlacht gekommen wäre.
Jubelnde französische Soldaten lobten das militärische Genie Napoleons und Gerter fragte sich, ob der Franzosenkaiser jetzt nicht etwas zu schnell vorpreschte.
»Wäre es nicht besser, wenn er jetzt erst alle Nachschublinien sichern und uns in geschützten Stellungen überwintern lassen würde?« fragte er Matthäus nachdenklich.
Der Korporal sah ihn beinahe fassungslos an. Wie konnte jemand angesichts der tropischen Temperaturen der letzten Wochen jetzt an den Winter denken? Diejenigen, die mit Napoleon zu den Pyramiden geritten waren, versicherten immer wieder, daß ihnen die russische Hitze weitaus mehr zu schaffen mache als die ägyptische – und die hätten sie schon für unerträglich gehalten.
»Herr Oberleutnant, Sie haben mir doch selber gesagt, daß jeder, der Rußland
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