Die Mars-Chroniken
gleichen Abend gönnte er sich ein heißes türkisches Bad, ein saftiges Filet mit einem Haufen schmackhafter Pilze, ein paar Gläser importierten trockenen Sherry und dazu Erdbeeren in Wein. Er legte sich einen neuen blauen Flanellanzug zu und einen teuren grauen Homburg, den er sich schräg auf den schmalen Kopf setzte. Er steckte Geld in eine Music-Box, die ihm ›Meine lieben alten Freunde‹ vorspielte. Überall in der Stadt setzte er die Musikautomaten in Betrieb, und die einsamen Straßen und die Nachtluft hallten wider von der traurigen Melodie von ›Meine guten alten Freunde‹, während er, groß und dürr und einsam, mit hallenden Schritten in seinen neuen Schuhen durch die Stadt marschierte, die kalten Hände in den Taschen.
Aber das war vor einer Woche gewesen. Er schlief nun in einem guten Haus an der Mars-Avenue, stand jeden Morgen um neun Uhr auf, nahm ein Bad und ging in die Stadt, um Schinken mit Ei zu frühstücken. Kein Vormittag verging, an dem er sich nicht eine Tonne Fleisch, Gemüse und Törtchen mit Zitronenschlagsahne einfror – genug, um damit zehn Jahre auszukommen, bis die Raketen von der Erde zurückkamen, wenn sie jemals zurückkamen.
Heute abend nun sah er auf seinem Gang durch die Stadt zum erstenmal die wächsernen Frauen in den bunten Schaufenstern, rosa und hübsch anzusehen. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, wie tot die Stadt war. Er zapfte sich ein Bier und begann still vor sich hin zu weinen.
»Ich bin ja ganz allein«, sagte er.
Er ging ins Elite-Theater und führte sich einen Film vor, der ihn von seiner Einsamkeit ablenken sollte. Doch das Theater klang hohl und leer und war wie ein Grab, in dem graue und schwarze Phantome über die große Leinwand huschten. Schaudernd floh er den unheimlichen Ort.
Er hatte sich entschlossen, nach Hause zurückzukehren, und marschierte gerade im Eilschritt durch eine Nebenstraße; als er ein Telefon klingeln hörte.
Er lauschte.
»Da klingelt irgendwo ein Telefon«, murmelte er.
Er schritt lebhaft aus.
»Da sollte jemand rangehen.«
Er setzte sich an den Rinnstein, um sich gemächlich einen Stein aus dem Schuh zu schütteln.
»Jemand!« schrie er und sprang auf. »Ich! Himmel Herrgott, was ist denn in mich gefahren?« sagte er laut. Er wirbelte herum. Welches Haus? Das da!
Er rannte über den Rasen, die Treppe hinauf, ins Haus, durch einen dunklen Flur.
Er riß den Hörer ans Ohr.
»Hallo!« brüllte er.
Tüüt – tüüt – tüüt.
»Hallo! Hallo!«
Der Anrufer hatte aufgelegt.
»Hallo!« brüllte er und schlug auf die Gabel. »Du alter Blödian!« beschimpfte er sich. »Bleibst am Rinnstein sitzen, du Narr! Du hirnverbrannter Idiot!« Er schüttelte wütend das Telefon. »Los, klingele noch mal, mach schon!«
Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß vielleicht auch noch andere Menschen auf dem Mars zurückgeblieben sein mochten. In der ganzen Woche hatte er keine Menschenseele zu Gesicht bekommen. Er hatte das Gefühl gehabt, daß auch die übrigen Städte so leer und verlassen sein mußten wie Marlin.
Er starrte auf das fürchterliche kleine schwarze Telefon hinab und begann zu zittern. An das Selbstwählsystem waren sämtliche Marsstädte angeschlossen. Aus welcher der dreißig Städte war der Anruf also gekommen?
Er wußte es nicht.
Er wartete. Er ging niedergeschlagen in die fremde Küche, taute sich eine Portion Heidelbeeren auf und verzehrte sie ohne Appetit.
»Da war ja auch niemand am anderen Ende der Leitung«, murmelte er. »Vielleicht ist irgendwo ein Leitungsmast umgefallen, und das Telefon hat ganz von allein geklingelt.«
Aber hatte er nicht ein Klicken gehört – ein Zeichen, daß der Hörer aufgelegt worden war?
Den ganzen Abend verweilte er im Flur des Hauses. »Nicht wegen des Telefons«, sagte er sich. »Aber ich habe einfach nichts anderes zu tun.«
Er lauschte auf das Ticken seiner Uhr.
»Sie ruft bestimmt nicht wieder an«, sagte er. »Sie wird nie nochmals eine Nummer wählen, unter der sich niemand gemeldet hat. Wahrscheinlich klingelt sie gerade andere Häuser in der Stadt an – in diesem Augenblick! Und ich sitze hier – Moment mal!« Er lachte. »Warum sage ich immer ›sie‹?«
Er blinzelte. »Könnte doch auch ein ›er‹ sein, oder?«
Sein Herzschlag verlangsamte sich. Er fröstelte und fühlte sich leer. Er flehte darum, daß es eine ›sie‹ war.
Er verließ das Haus und stellte sich in die Mitte der dunklen frühmorgendlichen Straße.
Er lauschte. Kein Ton.
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