Die Mars-Stadt
schließlich täglich oder vielmehr
allnächtlich statt. Für gewöhnlich begannen sie um
neun Uhr abends und dauerten bis nach Mitternacht. Mir war das
recht. Mit dem Alter hatte mein Schlafbedürfnis abgenommen.
Ich begab mich nur ungern in die VR, aber so ist das Leben. Abend
für Abend zog ich nach dem Abwasch die Haushaltshandschuhe
aus und die Datenhandschuhe an, lächelte Annette über
den aufgeräumten Tisch hinweg an, setzte die Brille auf
und…
Dann war ich drin. Einige bezeichneten uns gerne als Helden
der Hölle, und dementsprechend war das Setting: ringsumher
schwarze Unendlichkeit und zwischen uns ein runder Tisch mit
einem Abbild Norlontos oder Londons oder was wir uns gerade
anschauen wollten darauf; eine Camera-obscura-Ansicht,
zusammengesetzt aus Satellitenbildern und angereichert mit
sämtlichen verfügbaren Daten. Auf dieser Ebene waren
wir dreizehn, was stets eine Glückszahl für ein Komitee
ist. Unsere Avatare – unsere Körperbilder in der
virtuellen Welt – entsprachen unserem tatsächlichen
Aussehen, vor allem deshalb, damit wir uns im richtigen Leben
oder im Fernsehen wiedererkannten.
In der Nacht der großen Krise fehlte einer. Ich blickte
mich besorgt um. Julie war da, Mike Davis, Juan Altimara, alle
Vertreter unterschiedlicher Strömungen der Weltraumbewegung;
zwei identisch wirkende Jugendliche, die ich insgeheim
›die Mormonenmissionare‹ nannte, obwohl sie
eigentlich vom Wohlfahrtsschutz der Kirchen von Norlonto, der St.
Maurice Schutzgesellschaft, waren; und – vom
Freiwilligensektor zum kommerziellen übergehend – eine
Hand voll Delegierter verschiedener Abwehrfirmen, die von Woche
zu Woche wechselten, beunruhigend jung und bedauernswert
erschöpft wirkten und sich stets mit den Linken
zankten…
»Wo ist Catherin Duvalier?« Sie war jung,
aufgeweckt, intelligent: Koordinatorin einer kommunistischen
Miliz, deren Spionagenetzwerke über die
Grüngürtellager bis zu den Schlachten in den fernen
Bergen reichten.
Julie lächelte mich über den leuchtenden Abgrund des
Tisches hinweg an.
»Cat heiratet morgen. Sie lässt sich
entschuldigen.«
»Das ist keine Entschuldigung«, knurrte ich, war
jedoch erleichtert, dass niemand desertiert oder gefallen war.
»Okay, Genossen. Zunächst das
Geschäftliche.«
Ich rief die Kurse der Schutzaktien und Kampf-Futures auf. Sie
waren in raschem Steigen begriffen.
»Nun, Freunde«, wandte ich mich an die Jungs der
Schutzagenturen, »wisst Ihr vielleicht mehr als
wir?«
Zwischen den Avataren wurden Daten ausgetauscht, was an
Hitzeflirren erinnerte. Als sie sich hastig abgesprochen hatten,
ergriff einer der beiden das Wort.
»Wir wollten gerade sagen, Mr. Wilde…«
Ja, klar.
»… dass man heute an unsere Firmen wegen…
äh… potenzieller Konfliktsituationen herangetreten
ist. Es sieht so aus, als hätte eine große Anzahl von
Straßenbesitzern wiederum Absprachen für die
Durchfahrt von… äh… Panzerfahrzeugen
getroffen.«
»Soll das heißen, die Armee rückt
ein?«
Virtuelle Augen signalisierten Bestürzung rund um den
Tisch.
»Ja«, antwortete er verlegen. »Wir wurden
angewiesen, Sie darüber zu informieren, dass die Regierung
beschlossen hat, dem anomalen Status Norlontos ein Ende zu
machen. Dies geschieht auf Bitte eines großen Teils der
Geschäftswelt und der… äh… etablierteren
Nachbarschaftsvereinigungen…«
»Ihr Schufte!«, fuhr Julie die Mormonenmissionare
an. »Habt Ihr davon gewusst?«
»Schauen Sie mich nicht so an«, sagte einer der
beiden. »Wir haben wochenlang die Beschwerden unserer
Kunden übermittelt. Die Lage wird allmählich wirklich
unerträglich, zumal für die weniger Wohlhabenden. Ich
versichere Ihnen, dass die Vereinigung nichts davon wusste, aber
ich kann nicht behaupten, dass ich überrascht wäre oder
dass es mir Leid täte.«
»Und wann werden die Panzer einrücken?«,
fragte ich.
»Übermorgen«, sagte einer der
Agenturrepublikaner. »Eine Demonstration der Stärke
und so weiter. Ruhe und Ordnung auf den Straßen.«
»Gut«, sagte ich. »Dann bleibt uns Zeit, uns
zu organisieren.«
»Widerstand?«, fragten mehrere Stimme
gleichzeitig, entweder entsetzt oder voller Hoffnung.
»Nein«, meinte ich grimmig. »Rückzug.
Sagt euren Anführern und der Regierung, dass die Milizen
keine Schwierigkeiten machen werden.«
Ich ließ den Blick über die Anwesenden schweifen
und tippte gleichzeitig eine dringende Nachricht
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