Die Mars-Stadt
dadurch retten zu
können, dass sie nicht zu den Waffen griffen.
Juans Avatar leuchtete auf, als ihn Informationen erreichten,
was sich in seinem Ebenbild widerspiegelte.
»Also gut, Wilde«, sagte er. »Wir glauben,
wir können das verkaufen. Stell dich auf eine kurze Nacht
ein. Julie wird so viele Interviews wie möglich vereinbaren.
Und jetzt…«
»… solltet ihr in die Wahlbezirke
zurückkehren und euch auf die Regierungsarbeit
vorbereiten.«
Niemand lachte.
Als die Bilder der anderen verblasst waren, wollte ich die
VR-Brille abnehmen, doch Annette fasste mich bei den
Handgelenken.
»Nein«, sagte sie. Sie flog mir ins Gesicht, kam
am Hinterkopf wieder heraus und schlug erneut einen Bogen.
»Das macht Spaß. Warum hast du mir noch nie davon
erzählt?«
Sie stand auf, zerrte mich vom Stuhl hoch und zog mich auf den
realen Tisch nieder, während mir das virtuelle Abbild
unseres staatenlosen Staates vor den Augen schwankte. Wir
fummelten und vögelten auf dem Küchentisch,
während sich über uns in der bodenlosen Dunkelheit zwei
Schmetterlinge paarten.
15 Ein
weiterer Versuch, die Heraufkunft des Eschatons zu
bewirken
Dee erlebt ihre erste schuldbeladene Lust. Die Lust rührt
daher, dass sie im Erdsonnenschein auf einem grasbewachsenen,
steinigen Hang sitzt. Nicht einmal in ihren
Märchenträumen hat sie etwas Vergleichbares gesehen wie
das Blau des Himmels und das Weiß der Wolken. Am Talboden,
weit unter ihr, ergießt sich ein brauner Fluss über
schwarze Steine. Etwas weiter entfernt wird die Ruhe durch die
Arbeiter gestört, die einen riesigen Stahlmast errichten.
Dort aber, wo Dee sitzt, unterstreicht der ferne Lärm
bloß die allumfassende Stille; das halbe Dutzend winziger,
geschäftiger Gestalten erinnert sie bloß daran, dass
sie nichts weiter zu tun hat, als sich zu entspannen und in
vollen Zügen die saubere, dichte Erdluft einzuatmen.
Das Schuldgefühl rührt daher, dass dies alles
Illusion ist: eine hochauflösende virtuelle Realität,
die sie dermaßen fesselt, dass sie auf einmal begreift,
weshalb diese verführerische Subversion der Sinne
häufig missbilligt wird. Die dekadentesten Genussmenschen in
den Lofts von Ship City würden einem mit großem Ernst
erklären, dass dies widernatürlich sei, dass es das
moralische Rückgrat großer Zivilisationen
ausgehöhlt habe und einen blind mache.
Ein wenig bedrückt sie auch, dass Ax das Erlebnis nicht
mit ihr teilen kann. Er sitzt in der realen Welt fest, lungert
auf der Ladefläche des Tracks herum. Das halbautomatische
Fahrzeug ist eine riesige, verlängerte Version von Jay-Dubs
oberer Rumpfhälfte. Unter der Hülle aus
gebürstetem Aluminium verbirgt sich eine zentimeterdicke
Panzerung. Die atombetriebenen Turbinen ermöglichen in
ebenem Gelände und bei freier Fahrt eine
Höchstgeschwindigkeit von hundert Stundenkilometern. Im
Innern gibt es viele furchteinflößende und
faszinierende Geräte, doch eine VR-Ausrüstung
gehört nicht dazu.
Dee hat sich mittels Kortikalstecker eingeklinkt, der hinter
ihrem Ohr eingestöpselt ist. Ax steht diese Möglichkeit
ebenfalls offen, doch es gibt bloß einen Stecker, und sie
braucht ihn – oder vielmehr wird er für sie gebraucht.
Sie nimmt an, dass Ax noch immer in der offenen Hecktür
sitzt, die Beine herabbaumeln lässt und damit
beschäftigt ist, seine elektronische Version von Telepathie
auf den kniffligen Empfang eines alten Fernsehers zu
übertragen. Außerdem (so hofft sie jedenfalls)
hält er Ausschau nach Räubern, Kopfgeldjägern und
Sandstürmen. Jay-Dubs Systeme und die des Raupenfahrzeugs
sind auf all dies gut vorbereitet, doch wie Dee so in das
virtuelle Tal hinabblickt, fürchtet sie, dass diese ziemlich
ausgelastet sind. Sie weiß ein wenig über CPUs
Bescheid, und sie kann erkennen, dass sie stark beansprucht
werden.
Und zwar nicht bloß von Jay-Dub und dem Fahrzeug. Der
eine Grund, weshalb man sie auf den Hügel geschickt und
angewiesen hat, möglichst nichts zu tun, ist, dass ihre
eigenen Systeme bis an die Grenze ihrer Kapazität
beansprucht werden. Ihr Körper liegt in der realen Welt so
schlaff wie eine Stoffpuppe auf der Ladefläche des Trucks.
Bis auf zwei Gestalten, die an dem Metallgerüst arbeiten,
das unmittelbar unterhalb des langgestreckten, flachen Hauses
liegt, das wie ein Überhang anmutig aus dem Hang vorspringt,
verkörpern sie alle Aspekte ihres Ichs. Der Soldat
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