Die Mars-Stadt
sagte sie. »Ich habe so viel
über Wilde gehört, aber in meiner Vorstellung ist er
wie… Sie wissen schon, wie auf diesen Postkarten und
Postern. Ich weiß, es war unverschämt von mir, so mit
Ihnen zu reden, als wären Sie so jung, wie Sie
aussehen.«
Wilde schnaubte und klopfte ihr auf die Schulter.
»Vergessen Sie’s«, meinte er. »Ich bin
bloß im übertragenen Sinn von den Toten
auferstanden.«
Sie gingen zur Rechnereinheit der Unsichtbaren Hand und
registrierten Wilde als Mitbeklagten, und Wilde erhob Gegenklage
gegen Reid mit der Begründung, er sei für den Tod eines
gewissen Jonathan Wilde verantwortlich gewesen, ehedem wohnhaft
in London auf der Erde. Die Maschine nahm alle Informationen
kommentarlos entgegen, bloß die Lichter flackerten
hektisch.
»Und jetzt?«, fragte Wilde.
»Vielleicht sollten wir uns allmählich mal mit Dee
treffen. Sie wohnt bei mir, und bis zu meiner Wohnung sind es von
hier aus bloß fünf Minuten. Ax – das ist
ein… Bursche, der bei mir wohnt – hat gesagt, er
wolle heute Vormittag mit ihr einkaufen gehen.« Sie sieht
auf ihre Armbanduhr. »Halb vier. Eigentlich müssten
sie schon zurück sein.«
»Ist gut«, sagte Wilde. Er straffte sich. Zum
ersten Mal zeigte er Anzeichen von Unsicherheit.
Ax zieht das Messer aus der geschlossenen Tür des
Kleiderschranks, tritt ein paar Meter zurück und wirft es
erneut. Es dringt mit einem dumpfen Geräusch in das Holz ein
und bleibt darin stecken, wobei es dem grob menschlichen Umriss
aus lauter Kerben eine weitere hinzufügt. Aus dem Schrank
ist leises Stöhnen und ein Rummsen zu vernehmen.
Dee blickt von Parris’ Fotosammlung auf. Ihr ist
übel. Sie vermag nicht zu sagen, ob die Fotos reale Szenen
wiedergeben, ob sie gestellt oder lediglich computergeneriert
sind. Es ist ihr auch nicht sonderlich wichtig. Sie möchte
die Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis löschen und den
Urheber vom Antlitz der Erde tilgen.
Sie weiß noch immer nicht, ob sie dazu imstande ist oder
ob sie auch nur dabei zusehen kann, wie Ax es tut. Sie weiß
nicht, ob die Zugriffsrechte auf ihre Mordfähigkeiten
zurückgesetzt wurden. Wenn nicht, würde es wohl nicht
besonders dramatisch werden: kein Zögern der Hand, keine
Lähmung in den Füßen; bloß eine durchaus
vernünftige und natürlich anmutende Hemmung, ein
Widerwille oder eine Unruhe, die sie daran hindern wird, die
Sache zu beenden.
»Hast du endlich genug?«, fragt sie Ax.
Ax zieht das Messer wieder aus dem Holz. »Glaub
schon«, antwortet er und grinst sie an. »Man verliert
die Kontrolle.«
Dee nimmt die Pistole aus der Handtasche, steckt sie sich
hinter das Hüftband und nähert sich dem Schrank.
»Ich finde, wir sollten es zu Ende bringen«, sagt
sie.
»Ist gut«, meint Ax.
Er öffnet die zersplitterte Tür. Parris hängt
noch immer in den Fesseln. Die Augen hat er fest geschlossen.
Tränen laufen ihm übers Gesicht, und der Knebel aus
Isolierband ist verschmiert von den Tränen und dem Rotz, den
er ausgeschnaubt hat.
Ax fährt mit der Messerspitze über den nackten Bauch
des Mannes. Parris öffnet die Augen und verdreht sie, sieht
erst Ax an und dann um Hilfe heischend Dee. Blut quillt aus dem
Schnitt hervor. Dee erträgt den Anblick nicht und fällt
Ax in den Arm.
»Nicht!«, sagt sie. Die Bilder aus Parris’
Sammlung werden von Bildern des Soldaten verdrängt, eine
Enzyklopädie der Verletzungen und des Bluts: hervorquellend,
spritzend, hervorsickernd, tropfend. Sie stellt sich vor, wie es
ihre Kleider beschmutzt, und schaudert.
»Nein«, sagt sie. »Es reicht.«
Ax starrt sie an, sie aber gewinnt den Augenkampf. Er weicht
zurück. Dee macht sich an die Arbeit, löst Knoten,
schließt die Handschellen auf, bindet ihn los. Sie
stützt Parris, als er aus dem Schrank hervorstolpert, und
lässt ihn auf den Boden niedersinken. Aus seinen
Nasenlöchern kommen Geräusche.
»Oh«, sagt Dee. Das hat sie vergessen. Als sie
sich bückt und ihm das Isolierband vom Mund abreißt,
bemerkt sie, dass er trotz des zurückgebundenen Schwanzes
gekommen ist, und zwar mehr als einmal. Auf seinen Schenkeln
trocknet Sperma.
Er fällt auf die Knie nieder, blickt japsend und
lächelnd zu ihr auf.
»Danke, Herrin«, flüstert er. »Ich
hatte es verdient, ja wirklich!« Er sieht voll vager
Hoffnung zu ihr auf. »Wann besuchen Sie mich
wieder?«
Dee starrt ihn fassungslos an. Sie weicht ein paar Schritte
zurück, denkt immer
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