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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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Wilde.
Dann schob sie ihm Talgarths Akte entgegen.
    »Nehmen Sie die und lesen Sie sie irgendwann«,
sagte sie. »Es gibt wirklich eine Menge, was Sie nicht
wissen.«

 
10    An Tieren
getestet
     
     
    Sie werden mittlerweile bemerkt haben, dass das, was ich Ihnen
hier erzähle, nicht in den Schriften steht. Wie sie
sicherlich vermutet haben, ist eben dies der springende Punkt.
Weshalb sollte ich meine Hagiographen kopieren?
    Deshalb werden Sie mir hoffentlich verzeihen, wenn ich darauf
verzichte, zu erzählen, wie ich die Aktion ›Menschen
für den Fortschritt‹ (die Erziehungskampagne der
North British Mutual) zur Startrampe für die
Weltraumbewegung umfunktionierte; wie ich die
Weltraumhändler dazu benutzte, FreiRaum zu gründen,
eine radikalliberalistische Gruppe, welche die eine
vernünftige Lektion der Linken gelernt hatte, nämlich
den Leninismus; wie ich die Weltraumbewegung als
Aushängeschild für unseren Freimarktanarchismus
benutzte und wie die Entwicklung der Weltraumbewegung
schließlich meine eigenen Erwartungen übertraf –
kurz gesagt, wenn ich Mein Kampf als bekannt
voraussetze.
    Außerdem wurden meine politischen Kommentare und
Analysen, so kurzlebig sie mir damals auch vorkamen, auf den
Bildschirmen verblassend wie eine Kurzzeiterinnerung, von den
damaligen Nachrichtendiensten sorgfältig archiviert und nach
gegebener Zeit (nach Kriegen und Revolutionen) öffentlich
zugänglich gemacht, was sie zweifellos immer noch sind
– ›irgendwann, irgendwo findet sich alles im
Netz‹, und wenn Sie mehr wissen wollen, brauchen Sie
bloß zu suchen [bitte beachten Sie gegebenenfalls die
Einschränkungen der Lichtgeschwindigkeit]. Auch in dieser
Hinsicht möchte ich mich nicht wiederholen.
    In meinen späteren Jahren pflegte ich bisweilen über
die Jugend von heute zu schimpfen, die nicht anerkennen
würde, dass es eine Revolution vor der Revolution
gegeben hatte, dass es keine Neue Republik gäbe, wenn nicht
vorher eine Republik existiert hätte, und dass wir es alle
viel schwerer hatten – habe ich Ihnen übrigens schon
vom Krieg erzählt?
    Also lasse ich das ebenfalls aus.
    Erwähnenswert hingegen ist, dass die Vereinte Republik
nicht einfach so entstanden ist. Die Menschen wachten am
Wahlmorgen 2015 nicht einfach auf und dachten: ›Diesmal
müssen wir’s den Schuften endlich mal zeigen.‹
Das heißt, eigentlich schon, doch es war eine Menge Arbeit
nötig, um diesen verwegenen Impuls möglich zu machen:
Jahrzehnte der Agitation, der Empörung, der
Verfassungsentwürfe, der schwach besuchten Versammlungen in
schlecht möblierten Sälen, Leserbriefe, lautstarke
Demonstrationen und was sonst noch alles so dazugehört. Und
die Arbeit war verdammt schwer. Das weiß ich, weil ich
dabei war und selbst nicht mit anpackte.
     
    FreiRaum (der Name war mal ausgesprochen trendy gewesen, wirkt
nun aber, wie sich mal jemand ausgedrückt hat, eher
›vorgestrig‹) hatte seine bescheidenen Büros
über einer Niederlassung der Weltraumhändler in der
Straße gegenüber dem Markt von Camden Lock. (Ich hatte
die Leitung der Weltraumhändler niedergelegt, aber genug
Aktien und Optionen behalten, um ein kleines
regelmäßiges Einkommen zu erzielen. Die
Weltraumhändler verkauften mittlerweile richtige
Weltraumprodukte, größtenteils reine Neuheiten –
Schmuck aus Mondgestein, in der Schwerelosigkeit gezüchtete
Kristalle und so weiter –, doch einige hatten durchaus
einen gewissen praktischen Nutzen. Die Fertigung bei
Mikrogravitation hatte einige unerwartete Anwendungen
hervorgebracht, womit ich allerdings stets gerechnet hatte.) Wir
hatten die Büros vor zehn Jahren übernommen, und es
roch darin noch immer nach frischer Farbe, neuem Holz und Zement.
Die Betonwände waren mit Plakaten der Weltraumbewegung und
Hologrammen der NASA zugepflastert, doch das erste, was einem
beim Eintreten ins Auge fiel, waren mein Schreibtisch und das
große Schild an der Wand mit der Aufschrift: SIE
DÜRFEN RAUCHEN. Ich selbst rauchte nicht mehr – obwohl
die Medizin den Krebs besiegt hatte, gab es noch immer keine
Abhilfe für die Schäden an den Bronchien, und mit
zweiundsechzig war mir jeder Atemzug wichtig. Das Schild war eine
Frage des Prinzips, desgleichen die boshaften kleinen
Hinweisschilder an den Seifenspendern in den Toiletten, die
darauf hinwiesen, dass ihr Inhalt An Tieren getestet war.
    Am Morgen nach der Wahl war ich der Einzige im Büro,

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