Die Mars-Verschwörung
aufblicke, um ihm zu antworten, kann ich sein Gesichtnicht sehen, nur einen Kreis aus Licht, der seinen Kopf umstrahlt wie Sonnenschein den Mond bei einer Sonnenfinsternis. »Irgendetwas. Niemand sollte leiden müssen.«
»›Wo ist der Ort, der mich empfängt?‹«, rezitiert er. »›Das Tal, das mir Behausung wird? In welchem Forst richt ich mich ein? Und welcher klare Bach wird mich mit seinem Lied zur Ruhe singen?‹«
»Southey?«, frage ich.
»Wordsworth«, sagt er.
Passt. Er sieht aus wie ein Wordsworth-Typ. Ich tätschle den Hund ein letztes Mal und stehe auf. »Ja, schön, ich kann Poesie nicht ausstehen.«
»Es ist grausam, ein Tier leiden zu lassen«, sagt er und begegnet ganz locker meinem härtesten Blick. »Das Netteste wäre, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen.«
»Das ist nicht meine Vorstellung von Nettigkeit, mein Freund.«
Er geht um mich herum und setzt sich auf meinen Stein. »Ich bin nicht dein Freund«, sagt er, und seine trockene Lippe zuckt dabei.
»Gehen Sie nicht rein?«, frage ich, während ich mir insgeheim wünsche, ihm den blasierten Ausdruck aus der Visage zu prügeln.
Er sieht sich in der Schlucht um, als könne er mehr sehen als wir anderen. »Man nennt mich Stain. Ich betrete das Kloster nicht.«
»Sie sehen aus wie ein Mönch.«
Er schlägt die Beine übereinander und schließt die Augen zu einem Gebet. »Ich bin sicher, viele Dinge, die du für wahr hältst, sind es nicht.« Ohne Vorwarnung ergreift er mein Handgelenk und verdreht es, bis der Stummel meines kleinen Fingers offen sichtbar ist. Und dann spuckt er das Wort förmlich aus: »Dalit.«
Ich reiße meine Hand los. »Und?«
» Du bist der Chief, dem sie so lange gedient hat? Ein entehrter Feigling? Erklär mir, wie sie einem Dalit folgen konnte.«
»Ich habe Ihnen nichts zu erklären.« Ich mache Anstalten zu gehen. »Ich weiß nicht einmal, wer zum b’lyad’ Sie sind.«
Stain verstellt mir den Weg. »Du hast sie nicht verdient«, sagt er, und seine tiefe Stimme klingt noch rauer.
»Im Ernst.« Ich trete zur Seite.
Er folgt mir. »Sie wäre besser tot, als ein Dalit .«
Was ist das, Walzer? »Sie haben leicht reden. Sie hocken nur unter einem Baum und verstecken sich im Schatten. Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg, Kumpel.«
Für einen Moment starrt Stain vor sich hin, scheinbar ohne jedes Gefühl. Dann bewegt er sich ein wenig, und ich schiebe mich an ihm vorbei.
»Was für ein Arsch«, sage ich.
»Nettes Knochengerüst, tolle Bauchmuskeln, und er hat einen exquisiten Geschmack in Sachen Literatur«, sagt Mimi. »Mir gefällt er.«
»Na klar.« Ich greife nach der Tür und sehe mich verblüfft Viennes Gesicht gegenüber. »Whoa! Hey! Du hast mich erschreckt.«
»Tut mir leid. Ich wollte nur nachsehen, was du so lange hier machst.« Sie zieht mich hinein, steckt aber den Kopf hinaus, um sich vor dem Tor umzusehen. Lange Sekunden starrt sie Stain an, ehe sie leise sagt: »Als könnte er mich hinters Licht führen, wenn er sich vor aller Augen versteckt. Ich habe ihn schon aus einem Kilometer Entfernung gesehen.«
Aha , denke ich, da hast du es, Lochzunge.
Drinnen gehen Vienne und ich nebeneinander her. Unsere Stiefel knirschen auf dem Kiespfad, der von Banyanbäumen gesäumt wird. Er führt zu einem großen, gelb-orange angemalten Haus, offenbar das Hauptgebäude.
»Dieser Stain«, sage ich, als Vienne sich bei mir unterhakt, »wozu all die körperlichen Modifikationen?«
»Das fragt jeder.« Sie zuckt mit den Schultern. »Er sagt, der Schmerz hilft ihm, sich auf sein Chi zu konzentrieren.«
»Und was stellt er für dich dar?«
Sie kneift sich in die Unterlippe, und das Strahlen in ihren Zügen verblasst. »Stain ist ... das ist kompliziert.«
Ist hier denn alles kompliziert?
Obwohl ich mir auf die Zunge beiße und nicht noch einmal frage, verrät mir der Schatten, der sich über ihr Gesicht legt, dass dem so ist. Außerdem verrät er mir, dass Stain und Vienne eine gemeinsame Geschichte verbindet. Wieder erhebt das Monster namens Eifersucht sein hässliches Antlitz.
»Er sagt, er betritt das Kloster nicht, aber für mich sieht er eindeutig aus wie ein Mönch.«
»Stain war einst einer der Tengu.« Sie bleibt stehen. »Aber die Dinge haben sich geändert. Er wurde verbannt, weil er den Tempel entweiht hat.«
»Wie entweiht man einen Tempel?«
»Er hat einem anderen menschlichen Wesen das Leben genommen.« Sie schüttelt den Kopf. Sonnenschein fällt auf ihr Gesicht, sodass es heller
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