Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Masken der Niedertracht

Die Masken der Niedertracht

Titel: Die Masken der Niedertracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-France Hirigoyen
Vom Netzwerk:
sich beklagen könnte. Wenn es sich beschwert, dann über alltägliche Gesten oder Worte. Man sagt nur, das Kind fühle sich nicht wohl in seiner Haut. Dabei besteht der bewußte Wille, es zu vernichten.
    Das mißhandelte Kind wird als Quälgeist abgestempelt. Man sagt, es sei enttäuschend, verantwortlich für die Schwierigkeiten der Eltern: «Dieses Kind ist schwierig, es läßt keine Gelegenheit aus, es macht alles kaputt, es stellt nur dummes Zeug an, sobald ich ihm den Rücken gekehrt habe!» Dieses enttäuschende Kind läßt sich nicht einpassen in das Bild elterlicher Wunschträume.
    Es stört, weil es einen besonderen Platz in der elterlichen Problemlage einnimmt (nicht gewünschtes Kind zum Beispiel, verantwortlich dafür, daß es nun ein Paar gibt, das gar kein Paar hatte werden wollen) oder weil es eine Anomalie aufweist (Gebrechen oder schulisches Zurückbleiben). Seine schlichte Gegenwart bezeugt den elterlichen Konflikt und läßt ihn wieder aufleben. Es ist ein Kind, das als Zielscheibe dient, dessen Mängel man korrigieren muß, damit es den rechten Weg einschlägt.
    Bernard Lempert 4 beschreibt sehr gut diese Ablehnung, die mitunter einem unschuldigen Opfer entgegenschlägt: «Der ,Désamour’, der Liebesentzug, 5 ist ein Vernichtungs-System, das in gewissen Familien auf ein Kind niederprasselt und es umbringen soll; es ist nicht einfach das Fehlen von Liebe, sondern eine Struktur beständiger Gewalt anstelle der Liebe. Das Kind erleidet sie nicht nur, sondern verinnerlicht sie auch noch in dem Maße, daß nun zwei Dinge ineinandergreifen: Das Opfer wehrt sich gegen diese ausgeübte Gewalt mit Hilfe selbstzerstörerischer Verhaltensweisen.»
    Wir sind gefangen in einer absurden Spirale: Man putzt das Kind herunter, weil es ungeschickt ist oder nicht «comme il faut»; es wird immer ungeschickter und entfernt sich immer weiter von dem Wunschbild der Eltern. Nicht weil es ungeschickt wäre, wertet man das Kind ab; es ist ungeschickt geworden, weil man es abgewertet hat. Der ablehnende Elternteil sucht und findet zwangsläufig (Bettnässen, schlechte Schulnoten) eine Rechtfertigung für die Gewaltbereitschaft, die er empfindet; aber es ist die Existenz des Kindes und nicht sein Verhalten, was diese Gewalt auslöst.
    Eine sehr alltägliche Form, diese Gewalt auf perverse Weise auszudrücken, besteht darin, das Kind mit einem lächerlichen Spitznamen zu schmücken. Noch fünfzehn Jahre danach kann Sarah nicht vergessen, daß ihre Eltern sie, als sie Kind war, «Mülleimer» nannten, weil sie einen gewaltigen Appetit besaß und immer alle Schüsseln ausleckte. Wegen ihres Übergewichts entsprach sie nicht dem Kind, von dem die Eltern geträumt hatten. Statt ihr zu helfen, ihren Appetit im Zaum zu halten, hatte man versucht, sie noch weiter kaputtzumachen.
    Es geschieht auch, daß ein Kind etwas zuviel hat im Verhältnis zu seinem Vater oder seiner Mutter. Es ist zu begabt, zu empfindsam, zu wissensdurstig. Man löscht aus, was das Kind an Bestem in sich hat, um seine eigenen Mängel nicht sehen zu müssen. Die Behauptungen nehmen die Gestalt von Eigenschaften an: «Du bist ein Nichtsnutz!» Das Kind wird am Ende unausstehlich, stellt sich blöd, wird bockig, so daß der Elternteil guten Grund hat, ihm eine Abreibung zu erteilen. Unter dem Vorwand von Erziehung löscht man bei seinem eigenen Kind genau den Lebensfunken aus, der einem selbst mangelt. Man bricht den Willen des Kindes, man zerstört seinen kritischen Geist und richtet es so ein, daß es über seinen Elternteil nicht urteilen kann.
    In allen Fällen empfinden die Kinder sehr wohl, daß sie den Wünschen ihrer Eltern nicht entsprechen oder ganz einfach nicht erwünscht waren. Sie sind schuldig, weil sie die Eltern enttäuschen, ihnen Schande machen, nicht gut genug sind für sie. Sie entschuldigen sich dafür, denn sie möchten den Narzißmus ihrer Eltern heilen. Vergebliche Liebesmüh.
     
    Arielle fehlt jedes Selbstvertrauen, selbst wenn sie weiß, daß sie in ihrem Beruf talentiert ist. Außerdem hat sie Anfälle von Unwohlsein mit Schwindel und Tachykardie, die sie bereitwillig Angstgefühlen zuschreibt.
    Es ist ihr immer sehr schwergefallen, sich mit ihren Eltern auszutauschen, besonders mit ihrer Mutter Helene, zu der sie ein schwieriges Verhältnis hat. Diese vermittelt ihr den Eindruck, sie nicht zu lieben, aber Arielle entschuldigt sie und führt die Tatsache, daß sie immer schon Mutters Sündenbock war, auf ihre Stellung als Älteste

Weitere Kostenlose Bücher