Die Masken der Niedertracht
hast doch dieses Kind geschlagen, Du bist es, die gewalttätig ist!» Chantal läuft ins Zimmer ihres Sohnes, nimmt ihn in die Arme und tröstet ihn – und damit zugleich sich selbst.
Da man das Kind nicht tatsächlich körperlich töten kann, richtet man es so ein, daß es nichts gilt, man löscht es psychisch aus. Auf diese Weise kann man sich eine weiße Weste bewahren, selbst wenn das Kind, ganz nebenbei, jedes Bewußtsein seines eigenen Wertes verliert. «Wenn die Tyrannei im Hause ist und die Verzweiflung individuell, erreicht der Tod sein Ziel: das Gefühl, ein Nichts zu sein. Da einem die Gesellschaft nicht gestattet, das Kind körperlich zu töten, und da man ja einen legalen Deckmantel braucht – um ein einwandfreies Selbstbild zu bewahren, was der Gipfel der Scheinheiligkeit ist –, setzt man einen psychischen Mord ins Werk: alles so einrichten, daß das Kind nichts ist. Wir treffen hier eine Konstante wieder: keine Spuren, kein Blut, kein Leichnam. Der Tote ist lebendig, und alles ist normal.» 6
Selbst wenn die elterliche Gewaltsamkeit noch augenscheinlicher ist, kann man sie noch lange nicht zur Anzeige bringen, weil sie nicht immer erkannt wird.
Obwohl vorgeblich von ihren beiden Eltern gewollt, war auf Anhieb deutlich, daß Juliette nicht leben sollte. Sie stört, man will sie nicht. Seit ihrer Geburt ist sie schuld an allem, was nicht klappt: Ist sie nicht brav, ist es ihr Fehler; ist die Haushaltsführung schwierig, ist es auch ihr Fehler. Was sie auch tut, man putzt sie runter. Wenn sie weint, wirft man ihr ihre Tränen vor und gibt ihr eine Ohrfeige: «So, jetzt weißt Du wenigstens, weshalb Du weinst!» Und wenn sie nicht reagiert: «Man hat den Eindruck, es ist Dir völlig gleich, was man Dir sagt!»
Ihr Vater wünschte so sehr, sie sei nicht da, daß er Juliette, als sie neun Jahre alt war, nach einem Picknick im Wald «vergaß». Bauern lasen sie auf und benachrichtigten die Polizei. Der Vater sagte zu seiner Rechtfertigung: «Was wollen Sie, dieser Schlingel ist unmöglich, sie hat nichts anderes im Kopf, als auszureißen!»
Juliette wird nicht offen geschlagen. Sie wird ordentlich gekleidet und ernährt; andernfalls hätte die öffentliche Fürsorge sich ihrer angenommen. Trotzdem ist offensichtlich, daß sie nicht dasein sollte. Ihre Mutter, einem allmächtigen Ehemann unterworfen, versucht auszugleichen, die Tochter zu schützen. Sie widersteht, soweit sie kann, und droht auch manchmal, mit ihr wegzugehen, aber da sie nicht arbeitet, hat sie keine Einnahmequellen und bleibt an diesen schwierigen Mann gebunden.
Trotz der erlittenen Gewalt liebt Juliette ihren Vater, und wenn man sie fragt, wie es zu Hause geht, sagt sie bisweilen: «Mama macht immer Theater, sie sagt, sie will fortgehen!»
Die Kinder, die Opfer von perversen Aggressionen sind, haben keine andere Zuflucht als schützende Spaltmechanismen und tragen einen toten psychischen Kern in sich. Alles, was während der Kindheit nicht verarbeitet wurde, findet sich wiederholt in fortwährenden Aktionen im Erwachsenenalter.
Auch wenn nicht alle mißhandelten Kinder mißhandelnde Eltern werden, ist eine Spirale der Zerstörung in Gang gesetzt. Jeder von uns kann dahin kommen, seine innere Gewaltsamkeit an einem anderen zu wiederholen. Alice Miller 7 zeigt uns, daß die Kinder oder die Opfer beherrschenden Einflusses mit der Zeit die erlittene Gewalt vergessen – es genügt, ihnen den Wissensdurst zu nehmen –, aber sie wiederholen später diese Gewalt an sich selbst oder an anderen.
Die Eltern geben an ihre Kinder nicht nur positive Eigenschaften wie Redlichkeit oder die Achtung vor anderen weiter, sie können sie auch Mißtrauen und das Umgehen von Gesetzen und Regeln unter dem Deckmantel des «Sichdurchwurschtelns» lehren. Das ist das Gesetz des Gewitzten. In Familien, in denen die Perversion die Regel ist, stößt man nicht selten auf einen Vorfahren, der die Gesetze zu übertreten pflegte, was, wiewohl verborgen, allgemein bekannt war, und der als Heldengestalt galt dank seiner Gerissenheit. Wenn man sich seiner schämt, so nicht, weil er das Gesetz verletzte, sondern weil er nicht geschickt genug war, sich nicht erwischen zu lassen.
Der latente Inzest
Neben der perversen Gewalt, die darin besteht, die Individualität eines Kindes zu zerstören, treffen wir auf Familien, in denen eine ungesunde Atmosphäre herrscht, erzeugt aus zweideutigen Blicken, zufälligen Berührungen, sexuellen
Weitere Kostenlose Bücher