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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Balustrade aus weißem Marmor. Überall gab es Stuck, teilweise mit Blattgold belegt. Ein glitzernder Kronleuchter mit unruhig flackernden Kerzen versprühte ein bezauberndes Licht. Über die gesamte Decke des Vestibüls zog sich ein Gemälde von bedrückender Natürlichkeit. Es zeigte Nyx, die Göttin der Nacht, mit den drei Oneiroi: ihren Kindern Morpheus, Phantasos und Ikelos, der auch Phobetor genannt wurde.
    »Hier geht’s lang«, raunte Tarin und hielt auf den rechten Treppenbogen zu.
    Sie liefen zum ersten Stock hinauf und durch eine Tür in einen angrenzenden Gang.
    »Sagtest du nicht, Ikelas Privatgemächer werden bewacht?«, erkundigte sich Mira.
    »Noch sind wir nicht da«, antwortete Tarin.
    Über einen nicht ganz so ausladenden Treppenaufgang aus grünem Marmor stiegen sie weiter empor. Ihre Schritte wurden von einem roten Teppich gedämpft, Öllampen an den Wänden wiesen ihnen den Weg. Kurz bevor sie das Obergeschoss erreichten, legte Tarin seinen Finger auf die Lippen. Ab hier wusste jeder auch ohne Worte, was er zu tun hatte.
    Die letzten Stufen schlichen sie leise wie Katzen hinauf. Sie endeten vor einem Durchgang mit einem Dreiecksgiebel, der an den Portikus eines griechischen Tempels erinnerte. Der breite Korridor dahinter führte in Ikelas Privatgemächer.
    Nun galt es, sich erneut unsichtbar zu machen. Arian sah sich um. Die Wände des Treppenhauses waren verputzt und weiß getüncht, kein nackter Stein also wie im Wendelgang und im Burghof. Zur Wiederholung des bewährten Tricks blieb nur der Fußboden übrig. Arian deutete nach links auf den dunkelgrünen Marmorstreifen zwischen Teppich und Wand.
    Die drei wählten eine schlecht beleuchtete Stelle, möglichst weit vom Portal entfernt. Dort legten sie sich, Fuß an Kopf, auf den Boden, und Arian überzog sie mit einer Illusion, die der des unruhigen Untergrunds täuschend ähnelte. Das Trugbild war nicht gerade perfekt. Sollte einer der Leibwächter bewusst in die Schatten blicken, würde er den Schwindel entdecken. Und trotzdem kam der schwierigste Teil erst noch. Das Telebauchreden.
    »Alle antreten zum Appell!«, hallte es aus den Tiefen des Treppenhauses. Arian hoffte, dass er Ikelas Tonfall überzeugend genug hinbekam. Tarin hatte ihm während der Reise die sprachlichen Eigenheiten seiner Mutter bis zur Erschöpfung eingebläut: den dunklen Klang ihrer Stimme, das rollende R, die mal weiche, mal kratzende Hervorhebung bestimmter Silben und nicht zu vergessen ihren herrischen Befehlston.
    Bereits nach wenigen Augenblicken hörte er Schritte. Zwei Wachen mit Brustharnisch und rotem Kammbusch auf dem Helm eilten an die Brüstung und spähten nach unten. »Wer ist da?«, fragte einer.
    »Na wer schon? Ich bin es: Ikela«, scholl Arians barsche Antwort herauf.
    »Herrin?«, wunderte sich der Mann. »Mir wurde bei der Wachablösung gemeldet, Ihr hättet Euch zur Nachtruhe in Eure Gemächer zurückgezogen.«
    »Ich habe die Geheimtür im Kamin benutzt, als ich Zigor kommen spürte.«
    »Euer Sohn kehrt zurück?«
    »Kennst du sonst einen mit diesem Namen?«, erwiderte Arian in gereiztem Ton.
    »Nein, Herrin. Ich bin nur überrascht, weil …«
    »Was erdreistest du dich, mir zu widersprechen, Soldat?«, fiel Arian dem Gardisten ins Wort. »Wenn du nicht auf der Stelle deine Kameraden rufst, werde ich euch samt und sonders auspeitschen lassen. Ich will, dass ihr vollzählig zum Appell im Hof antretet und meinen Sohn mit allen Ehren willkommen heißt. Nachdem ich Zigor begrüßt habe, werden wir eure Parade abnehmen.«
    »Zu Befehl, Herrin«, antwortete der Wächter zackig, und sein Waffenbruder stimmte mit ein. Die beiden machten kehrt und verschwanden durch das Portal.
    Kurz darauf kamen sie mit zwei weiteren Leibgardisten zurück und eilten allesamt die Treppe hinab. Als ihre Schritte verklungen waren, richtete sich Tarin auf. Er sah aus wie eine lebende Marmorfigur.
    »Tempus fugit, Freunde – ›Die Zeit flieht‹.«

Ikela bringt Arian fast aus dem Gleichgewicht
und schon droht ihm auf dem Seil zwischen Lüge und Wahrheit
die nächste Gefahr.
       
      
      
    Landgrafschaft Hessen-Cassel, 28. Juni 1793
      
    Die Zimmerflucht der Herrin von Phobetor glich einem Kuriositätenkabinett. Offene Durchgänge luden zum Lustwandeln ein, dicke Teppiche und kostbare Wandbehänge zum Schwelgen im Luxus. Während Arian mit seinen Gefährten durch die Räume der Burgherrin schlich, entdeckte er allerlei Wundersames. Im Kerzenlicht glitzerte, groß

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