Die Masken des Morpheus
unvermittelt. Sie waren erst auf halber Höhe angelangt. Unter ihnen glitzerte der Rhein wie ein silberner Lindwurm im Mondlicht.
»Nichts«, antwortete sie leise. »Abgesehen von dem Busch.«
»Schieb die Zweige zur Seite, und sag mir, was dahinter ist.«
Sie tat es und stutzte. »Da ist ein Fels, glatt wie eine Schiefertafel.«
»Das ist der Eingang.«
»Falls du es noch nicht weißt, Tarin: Ich kann nicht durch Wände gehen.«
»Doch. Ich werd’s dir beweisen. Nimm den Kalkstein, den ich dir gegeben habe, und zeichne ein mannshohes Achteck auf den Fels.«
Im Licht des Feuerkristalls sah Arian, wie das falkenköpfige Mädchen die Anweisung befolgte. Die unterste Linie zog sie dicht über dem Boden, für die obere stellte sie sich auf die Zehenspitzen. Für ihn sah es so aus, als glimmten die Linien. Bald strahlten sie immer heller, und schließlich wandte er sich keuchend ab, weil er das Gleißen nicht mehr ertrug.
»Hast du etwa die Augenbinde abgenommen?«, flüsterte Tarin.
»Das war gar nicht nötig«, erwiderte Arian. Vorsichtig lugte er zur Wand. Das blendende Licht war verschwunden. Stattdessen gähnte nun ein düsterer Schlund in dem Felsen.
»Da ist ein Loch«, sagte Mira.
»Gut«, antwortete Tarin. »Herzlich willkommen in Phobetor.«
Es schien, als lösche jemand den Mond und die Sterne aus. Der Blick auf den nächtlichen Fluss verschwand. Dichte Finsternis umfing die drei Eindringlinge. Das achteckige Tor war lautlos zugefallen, kaum dass sie Ikelas verborgenes Reich betreten hatten.
»Ist das Magie?«, fragte Mira. Nun war auch sie blind.
»Nur eine komplizierte Umkehrung der Naturkräfte«, erklärte Tarin. »Nimm jetzt die Augenbinde ab, Arian.«
»Wird deine Mutter uns dann nicht entdecken?«
»Nein. Sie sieht nur, was sie sehen will. So wie es ihr unmöglich erscheint, dass eine Frau sich gegen sie erhebt, hält sie auch Phobetor für uneinnehmbar, solange sie die Umgebung überwacht. Kannst du durch den Kristall etwas erkennen?«
»Ja. Einen ziemlich engen Tunnel.« Arians nicht vorhandenes linkes Auge erblickte grob behauene Felswände in rotem Licht. Der Feuerkristall sprühte nur so vor Bildern. Er enthüllte das Wahre hinter dem äußeren Schein und hier war alles verborgen und geheim.
Tarin zog seinen Degen aus der Scheide. »Du gehst vor. Beim nächsten Abzweig sagst du mir Bescheid.«
»Steck die Waffe weg. Das Blutbad bei Calais hat mir gereicht.«
»Keine Sorge. Ich bin mit den Wächtern aufgewachsen. Einige sind sogar meine Freunde. Wenn sie uns nichts tun, tue ich ihnen auch nichts.«
Arian zwängte sich an Mira vorbei, die Hände wohlweislich auf dem Rücken. Ihre Körper glitten aneinander entlang, ohne dass es zu einem Tausch kam. Er spürte ihren warmen Atem auf dem Gesicht. Seine Nase erhaschte einen Hauch ihres Parfüms. Die Versuchung war groß, sich einfach vorzubeugen und sie auf die Lippen zu küssen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mira.
»Nein«, murmelte er, schob sich vollends an ihr vorbei und übernahm die Führung.
Die im Lurleberch waltenden Kräfte waren stark. Sie entfachten im Feuerkristall Bilder, die Arian sicher durch die Dunkelheit führten. Während er voranschritt, warnte er seine Gefährten vor Hindernissen und niedrigen Stellen, damit sie sich nicht den Kopf anstießen. Nach ungefähr dreißig Schritten schien der Tunnel zu enden. »Vor uns ist eine Wand.«
»Das sieht nur so aus«, antwortete Tarin. »Wenn du direkt davorstehst, siehst du zwei Wege. Wir nehmen den rechten.«
In dem etwas breiteren und höheren Quertunnel kamen sie schneller voran. Er mündete in eine Spirale, die sich im Berg nach oben schraubte. So überwanden sie mehrere Geschosse, deren dunkle Gänge sich ihren Blicken verschlossen. Auf einmal meinte Arian, in der Finsternis hinter sich ein Geräusch zu vernehmen, ein Kratzen oder Schaben.
»Habt ihr das gehört?«, wandte er sich an Mira und Tarin.
»Ja«, antwortete Letzterer. »Schon möglich, dass wir an dem Tatzelwurm vorbeigekommen sind. Gila ist kein richtiger Wächter, eher ein ungenießbarer Griesgram und Eigenbrötler, den meine Mutter manchmal nach hier unten verbannt, weil er nach allem schnappt, was ihn reizt. In jedem Mann sieht er einen Rivalen, der ihm die Gunst seiner Herrin stehlen will. Beeilen wir uns.«
Das ließ sich Arian nicht zweimal sagen. Allerdings zweifelte er, ob sein Kamerad von einem echten Tatzelwurm sprach, auch Bergstutzen oder Stollenwurm genannt. Nach altem Volksglauben
Weitere Kostenlose Bücher