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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sondern auch dessen Geschick. Mit raschen Schritten balancierte er über das Rundholz in Richtung Futtertrog.
    Arian lief ihm brüllend hinterher. »Gib mir meinen Leib zurück!«
    An der Stallwand angelangt, vollzog Mortimer eine Vierteldrehung nach links und sprang zur nächsten Querstange herüber. Im Flug touchierte er etwas mit der Fußspitze.
    »Verräter!«, krächzte es. Es folgte ein Scheppern. »Verfluchter Körperdieb!«, kreischte der Unbekannte abermals.
    Endlich erreichte Arian den Stellplatz und reckte sich nach dem Bein des um sein Gleichgewicht kämpfenden Seelendiebs. Seine Fingerkuppen streiften dessen Fußfessel, dann setzte der Dieb mit akrobatischer Leichtigkeit zum nächsten Holm über. Zurück blieben ein umgefallener Hocker und ein auf dem Boden liegender Vogelkäfig. Einen Moment lang starrte Arian ungläubig das Tier an, das da hinter den messingfarbenen Gitterstäben so verwirrend menschlich krakeelte. Als er seine Prüfergabe an ihm ausprobierte, fing es wie erwartet an zu leuchten. Es war zweifellos mehr als ein sprachbegabter Papagei.
    »Glotz nicht so blöd. Hol dir den Kerl, sonst ist er weg«, schnarrte der Vogel.
    Blinzelnd sah Arian dem Seelendieb hinterher, der inzwischen seinen Rhythmus gefunden hatte und mit spielerischer Leichtigkeit von Holm zu Holm sprang. Gleich würde er an der Stalltür sein. Arian zerrte an der Querstange, um seinen ungewohnt schwerfälligen Körper herumzuhieven und die Verfolgung aufzunehmen. Plötzlich spürte er einen grauenhaften Stich im linken Unterarm. Er schrie auf, prallte mit Sir D’Arcy zusammen und warf ihn um.
    »Pardon!«, riefen beide zugleich.
    Arian konnte sich mit Mühe aufrecht halten. Indem er mit einem großen Schritt über den Gefallenen hinwegsetzte, zog er die dreieckige Klinge aus seinem Arm. Der Schmerz raubte ihm fast die Besinnung. Tränen rannen ihm über die Wangen. Alles verschwamm vor seinen Augen. Er presste sich die Hand auf die Wunde und taumelte auf die offene Stalltür zu. Vom Seelendieb war nichts mehr zu sehen. »Wo bin ich?«, rief er.
    Nur er selbst wusste, was er damit meinte.

Arian sucht Hilfe,
weil er nicht zweimal an einem Tag verbluten will.
      
      
      
    London, 7. Juni 1793
      
    London war eine der größten Städte der Welt. Fast eine Million Menschen lebten hier. Und einer von ihnen war ein Seelendieb, der mit Arians Körper herumlief. Er konnte sich überall verstecken. Vielleicht gehörte er dem Adelsstand oder dem aufstrebenden Bürgertum an – mit seinen Möglichkeiten stand ihm jeder Palast und jedes Landhaus offen. Oder er tauchte in der Masse unter, im riesigen Heer der Arbeiter, Tagelöhner oder gar im Bodensatz der Bevölkerung, bei den Dieben, Huren und Mördern.
    Hooter war einer dieser Gesetzlosen gewesen. Um sein gestohlenes Ich zurückzubekommen, musste Arian weiter die Rolle eines Halunken spielen und sich dorthin begeben, wo er sonst niemals hingehen würde. Die Verfolgung des Seelendiebs hatte er vorerst aufgegeben.
    Seine Verletzung ließ ihm gar keine andere Wahl. Er konnte Mortimers Präsenz ohnehin kaum mehr spüren. Es lag wohl an den Schmerzen, die zunehmend sämtliche Wahrnehmungen seiner Sinne überschwemmten. An diesem Tag war er bereits einmal fast verblutet, wenn auch nicht in diesem schier unverwüstlichen Körper. Nie wieder wollte er so etwas durchmachen.
    Zu den äußerlichen Qualen kamen die seelischen hinzu. Sein Herz fühlte sich an wie ein eiskalter Stein, der in seiner Brust drückte und scheuerte. Er bekam einfach nicht das Bild seines Adoptivvaters aus dem Kopf, wie er im Stall blutend zusammenbrach.
    Und als wäre das nicht schon schlimm genug, fühlte er sich von allen im Stich gelassen. Als Kind hatte er darunter gelitten, dass seine Eltern ihn einem Fremden gegeben hatten. Möglicherweise war auch Kord nicht ehrlich zu ihm gewesen, sofern Mister M. bei der Geschichte mit der Pariser Familie du Lys die Wahrheit gesagt hatte. Zumindest der Verrat von Sergeant Major Astley ließ sich wohl nicht leugnen, dachte Arian. Hatte ihn überhaupt je einer um seiner selbst willen geliebt?
    Sein erster Gang führte ihn zu Doktor Arthur Abernathy, der Hilfsbedürftige gerne in sein Haus kommen ließ, anstatt wie üblich von einem Kranken zum nächsten zu reisen. Der gebürtige Schotte war ein persönlicher Freund des Sergeant Major und hatte schon oft verletzte Artisten zusammengeflickt. Man konnte ihm nicht nachsagen, dass er sonderlich pingelig wäre, weder bei der

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