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Die Masken des Morpheus

Die Masken des Morpheus

Titel: Die Masken des Morpheus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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angelegten Verband unsanft fest. »Und ich würde es auch niemals tun. Ich bin ein toleranter Mensch, aber alles hat seine Grenzen. Warum stellen Sie mir überhaupt diese Fragen, Hooter?«
    »Mir wurde etwas gestohlen. Etwas unermesslich Wertvolles. Slit oder Turtleneck könnten mir helfen, es zurückzubekommen.«
    »Das schlagen Sie sich mal schön aus dem Kopf. Machen Sie am besten einen großen Bogen um diese Schurken. Turtleneck hat Leute umbringen lassen, nur weil ihm ihr Blick nicht gefiel. Und wenn es ums Töten geht, kennt Slit sich besser mit dem menschlichen Körper aus als ich.«
    Arian seufzte. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Können Sie mir trotzdem sagen, wo ich The Gun finde?«

Unser Held sucht ein öffentliches Haus
von zweifelhaftem Ruf auf.
       
      
      
    London, 7. Juni 1793
      
    Im geschäftigsten Hafen der Welt herrschte niemals Ruhe. Bei Tageslicht löschte man in den Docklands von London den aus den Kolonien herbeigeschafften Reichtum oder bunkerte Ladungen für die nächste große Fahrt. Und nachts schafften die Schmuggler ihre Konterbande an Land. Allen Gewerbetreibenden war eins gemeinsam: Sie hatten fast immer Durst.
    Um diesem Notstand abzuhelfen, gab es im Königreich Großbritannien die public houses. Diese »öffentlichen Häuser«, kurz Pub genannt, schenkten nicht nur Alkohol aus. Für viele einfache Leute waren sie ein zweites Zuhause, in dem sie jenes Wohlbehagen fanden, das sich in den von Ratten und Kakerlaken bevölkerten Mietskasernen der Arbeiterviertel so selten einstellen wollte. Außerdem machte man hier Geschäfte, plante Verbrechen und handelte sämtliche Arten von Nachrichten. Ein Musterbeispiel dieser wichtigen Stütze des gesellschaftlichen Lebens war The Gun .
    Das Pub lag am nordöstlichen Ufer der Isle of Dogs – der »Hundeinsel«. Unter den rauen Gesellen, die sich hier betranken, sei auch mancher, der es mit dem Gesetz nicht so genau nähme, hatte Doktor Abernathy gesagt. Gewöhnlich reagierten solche Leute durchaus empfindlich auf Schnüffler. Der Arzt hatte seinen Patienten nicht von ungefähr davor gewarnt, sich unter die Gauner der Docklands zu mischen.
    Arian streifte schon seit etwa einer Stunde in der Gegend herum. Der Abend wurde zusehends ungemütlich. Vom Fluss her zog Nebel herauf. Er strich über die Anlegestellen hinweg und verwandelte die Segler in Geisterschiffe – man sah sie nicht, man hörte nur noch das Knarzen der Takelage. Ab und zu hallten gedämpfte Stimmen durch den Dunst, während dieser unaufhaltsam in die Gassen der Stadt hinaufkroch.
    Ungewöhnlich für die Jahreszeit, dachte Arian. Wahrscheinlich hing es mit dem Wetterumschwung zusammen, der sich bereits am Nachmittag angekündigt hatte. Bleigraue Wolken waren über London aufgezogen wie das Heer der Finsternis. Gegen sechs hatte es gewittert. Danach war es empfindlich kühl geworden. Inzwischen fand die Abendsonne wieder vereinzelte Lücken in den Schlachtreihen der dunklen Himmelsheere. Gerade hatte eine Turmuhr einmal geschlagen – Viertel nach acht.
    Er war absichtlich etwas länger vor dem Pub herumgeschlichen, um sich von der Wirkung des Whiskeys zu erholen, den der Arzt ihm zur Betäubung verabreicht hatte. Außerdem wollte er nicht den Eindruck erwecken, das Treffen mit Slit nicht erwarten zu können. Dabei traf genau das zu. Während Arian auf die Tür des Gun zusteuerte, stand ihm wieder das Bild seines blutenden Ziehvaters vor Augen. Nicht zum ersten Mal war ein geliebter Mensch seinetwegen gestorben. Die Trauer brachte ihn fast um. Er fühlte sich schuldig, weil er tatenlos dem grausamen Mord an dem Sergeant Major zugesehen hatte. Womöglich verdächtigte man sogar Hooter der Tat und suchte bereits nach ihm. Dieser Wahnsinn musste aufhören, je eher, desto besser. Es wurde Zeit, die Opferrolle abzulegen und in die des Jägers zu schlüpfen. Vielleicht würde sich in der Spelunke sein Schicksal entscheiden.
    Er nahm den Dreispitz ab und öffnete die schwere Eichentür. Ein warmer Mief schlug ihm entgegen. Die verbrauchte Luft roch so stark nach Alkohol, dass er fürchtete, ein Funke würde genügen, um das Pub wie ein Pulverfass hochgehen zu lassen. Dagegen sprachen allerdings die Pfeifenraucher, die den Schankraum zusätzlich verpesteten. Ihr Qualm sorgte drinnen für ähnlich schlechte Sichtverhältnisse wie der Nebel draußen.
    Arian wäre am liebsten sofort wieder umgedreht. Das Publikum hier war von merklich derberer Natur als jenes in den gepflegteren

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