Die Mauern des Universums - Melko, P: Mauern des Universums - The Walls of the Universe
im Wohnheim abholen.« Also fuhr er sie zum Wohnheim.
»Kann ich dich wiedersehen?«, fragte er sie, als sie vor Caseys Elternhaus in Findlay ankamen. »Ich werde an Weihnachten da sein, zu Besuch bei Bill und Janet …«
Casey warf ihm einen seltsamen Blick zu. Hatte sie womöglich Mitleid mit ihm? Er wusste ja, wie verzweifelt diese Frage wirken musste; aber wenn er Casey ansah, hatte er keine andere Wahl.
Nach fünf qualvollen Sekunden antwortete sie. »Warum nicht? Meine Eltern machen am ersten Weihnachtstag eine Party, jeder kann kommen. Komm einfach um halb vier vorbei.« Danach gab sie ihm noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand im Haus.
Jetzt schmückten bunte Lichter die Dachrinnen des Hauses. Die riesige Kiefer im Vorgarten war mit blinkenden Glühbirnchen übersät – zumindest bis zu der Höhe, die Mr. Nicholson mit seiner Leiter hatte erreichen können. Jedes Fenster glitzerte vor Lichterketten, und hinter einer Scheibe im oberen Stockwerk funkelte sogar ein kleiner neunarmiger Leuchter. In der Einfahrt parkten die Autos dicht an dicht. Jemand hatte einen Schneemann gebaut, dem die steigenden Temperaturen allerdings nicht gut bekamen: Er
neigte sich in einem Winkel von dreißig Grad zur Erde. Unter der Schneedecke auf dem Rasen wurden mehr und mehr braune Grasbüschel sichtbar.
»Was mache ich hier eigentlich?«, murmelte John um Viertel nach drei. Er hätte lieber in die Fabrik fahren sollen. Er hätte lieber an seiner Aussage gegenüber der Abteilung Spielkontrolle arbeiten sollen. Stattdessen saß er vor Caseys Haus im Auto und wartete.
Fast wäre er tatsächlich weggefahren. Fast wäre er ausgestiegen und hätte vor der vereinbarten Zeit geklopft. Doch genau in dem Moment, als er die Wagentür öffnen wollte, ging die Vordertür des Hauses auf. Da stand sie: Casey, in einem pelzbesetzten roten Kleid, das ihre Oberschenkel nur zur Hälfte bedeckte.
Als hinter Casey jemand auftauchte und ihr den Arm um die Hüfte legte, setzte Johns Herz aus.
Jack lehnte sich nach vorne und küsste Casey auf den Mund. Sie schlang ihm die Arme um den Hals, drückte sich an ihn und erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich. Jacks Hand wanderte ihren Rücken hinab und unter ihren Rock.
John riss seinen Blick los. Sekunden vergingen.
Beide Hände ans Lenkrad gekrallt, öffnete er langsam wieder die Augen. Er musste sich vorbeugen, um durch die beschlagene Scheibe etwas erkennen zu können. Ihm war übel.
Minuten später entließ Jack Casey aus seiner Umarmung und schlenderte den Weg hinunter. Vom Gartentor aus winkte er ihr noch einmal zu, stieg in sein Auto und fuhr davon. Casey blickte ihm hinterher, bis er verschwunden war, ehe sie sich umdrehte und ins Haus zurückkehrte.
Mit zitternden Fingern ließ John den Wagen an und machte sich auf die einsame Fahrt nach Toledo, bei der ihm die Szene vor Caseys Elternhaus ständig vor Augen stand.
Zwei Tage bevor die Interessenten aus Las Vegas erscheinen sollten, kamen Grace und Henry aus den Ferien zurück. Urplötzlich schlug das Wetter um: Es wurde düster und stürmisch. Schneeverwehungen verhüllten die Zufahrt zur Fabrik, der Trans Am blieb stecken. Henry und John mussten drei Stunden lang schaufeln, nur um am nächsten Morgen eine ebenso dicke weiße Decke vorzufinden. Grace fegte währenddessen die leere Fabrikhalle, warf alte Pappschachteln und Paletten in den Ofen und kratzte den neuen Rost vom alten Rost. Glücklicherweise hatte sich der Gaslieferant bereiterklärt, vorerst auf Pump zu liefern, so dass sie die Heizung im Untergeschoss anwerfen konnten, bis es immerhin zehn Grad warm war.
»Ich hoffe, die wollen nicht aufs Klo gehen«, bemerkte Grace. »Das ist immer noch eingefroren.«
»Aber der Verkaufsraum sieht wirklich gut aus!« Henry hatte Recht: Dank einem zweiten Anstrich und zwei neuen Stehlampen war er richtiggehend gemütlich. Die nackten Glühbirnen waren verschwunden, genauso die Spinnweben, und wegen des Ofens war es hier – wenn auch nicht in der ganzen Fabrik – mollig warm.
»Hoffentlich schaffen die es morgen überhaupt hierher.« John sah zum Fenster hinüber, gegen das der Schneeregen prasselte. Mit dem Fingernagel kratzte er die Frostschicht von der Scheibe und spähte hinaus auf sein Auto. Schon wieder war es von einer sechs Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt. Ansonsten war die Gasse leer. John hatte Grace und Henry weder von dem Einbruch noch von den beiden merkwürdigen Typen erzählt. Warum
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