Die Mauern des Universums - Melko, P: Mauern des Universums - The Walls of the Universe
den Wind. Kurz entschlossen folgte er dem Fluss nach Südwesten. Er war ganz allein, es waren keine weiteren Fußspuren zu sehen. Offenbar war hier seit dem letzten Schneefall niemand mehr vorbeigekommen. Er fragte sich, wann zuletzt überhaupt jemand in dieser Gegend gewesen sein mochte. Eine Brücke spannte sich über den vereisten Fluss, fast verschüttet vom Schnee. Anscheinend wurde sie seit Ewigkeiten nicht mehr geräumt.
John hielt inne. Weiter vorne hörte er einen laufenden Motor – der erste Hinweis darauf, dass in diesem Universum noch jemand lebte. Er fing an zu rennen. Nasser Schnee klatschte gegen seine Fußgelenke und lief in seine Schuhe, aber er kümmerte sich nicht darum.
Während das Motorengeräusch lauter wurde, tauchte vor ihm ein mit schwarzen Brandflecken übersätes Ziegelgebäude auf, doch er ließ es links liegen. Und erstarrte: Mitten auf der Hauptstraße des Campus stand ein Lastwagen der Armee. Ringsum waren schwer bewaffnete Soldaten postiert, damit beschäftigt, eine Menge von über hundert Zivilisten im Auge zu behalten, die vor der Ladefläche des Lasters Schlange standen. Daneben hatte man ein Schild in den Boden gerammt: »Essensausgabe an der University of Toledo. Dienstags, donnerstags, samstags.«
Der Reihe nach schlurften die Zivilisten nach vorne und bekamen zwei Konservendosen in die Hand gedrückt. Manche hatten eine Tasche dabei, in der sie die Dosen hektisch verstauten.
In der Nähe der Schlange blieb John stehen und sah zu.
Jemand stieß ihn in die Rippen. »Da hinten stellt man sich an!«
John drehte sich um. Vor ihm stand ein älterer Mann in einem ausgebeulten roten Mantel, eine Wollmütze tief in die Stirn gezogen. Trotz des Mantels sah man sofort, dass der Mann bis auf die Knochen abgemagert war.
»Nein, nein«, sagte John abwehrend. »Ich will mich nicht anstellen.«
»Nicht? Und warum bist du dann rausgekommen?« Der Mann starrte ihn misstrauisch an. »Verzieh dich nach hinten!«
»Was ist hier los?«, fragte John.
»Was hier los ist? Essen gibt’s. Vielleicht ist sogar noch was da, wenn ich da vorne bin. Aber wahrscheinlich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht um vier Uhr morgens aufgestanden bin wie die restlichen Helden hier. Ich hab verschlafen, und jetzt bin ich spät dran. Ist aber halb so schlimm. Meine Frau hat’nen Bezugsschein für die Ausgabe an der Ottawa Hills Highschool. Wir wohnen gleich nebenan, also sind wir da jedes Mal die Ersten.«
John konnte sich noch immer nicht vorstellen, wie es zu all dem gekommen war. Bezugsscheine, rationierte Nahrung, Schlangen vor der Essensausgabe – so etwas gab es vielleicht anderswo, aber doch nicht in den Vereinigten Staaten! Er musste erfahren, was hier passiert war. »Ist der Winter nicht ziemlich früh dran?«, erkundigte er sich möglichst beiläufig.
»Der Winter?« Der Mann lachte. »Nein, der Winter ist nicht früh dran. Der Sommer ist spät dran. Schon drei Jahre zu spät.« Er klopfte einem anderen Mann auf die Schulter, der vor ihm in der Schlange stand. »Hast du das gehört, Rudy? Der Junge hier meint, der Winter wär früh dran.«
Rudy drehte sich um und warf John einen scharfen Blick zu. »Sieht ziemlich gut genährt aus, der Kleine. Findest du nicht, Stan?«
Stans Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Bist wohl ein Hamsterer? Brauchst wohl deswegen kein Essen?«
Das hörte sich nicht gut an. John trat lieber den Rückzug an, ehe die Situation eskalierte. Er wusste, dass Stan und Rudy ihm nicht folgen konnten, da sie dazu ihre Plätze in der Schlange hätten aufgeben müssen.
In einigen Metern Entfernung bezog John Stellung und beobachtete, wie ein Wartender nach dem anderen zwei Konserven ausgehändigt bekam. Die Dosen waren ihm vertraut: Campbell’s. Der Laster hatte rot-weiße Dosen mit Campbell’s Chicken Noodle Soup geladen.
Da sah John, wie einer der Soldaten die Formation verließ und auf ihn zustrebte. Offenbar hatte er ihn entdeckt.
Der Soldat baute sich vor ihm auf, die Waffe an der Seite. »Was lungern Sie hier herum?«
»Ich warte hier nur, Sir. Ich werde keine Schwierigkeiten machen.«
Der Soldat entspannte sich sichtlich. »Na gut. Aber warten Sie nicht zu lange.«
John nickte und schwieg. Aber der Soldat machte keine Anstalten, in die Reihe seiner Kameraden zurückzukehren, sondern betrachtete ebenfalls die Schlange der Zivilisten.
Nach einer kurzen Pause wagte John eine Frage. »Werden die Lebensmittel reichen?«
Der Soldat schaute
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