Die Mauern des Universums - Melko, P: Mauern des Universums - The Walls of the Universe
Natürlich hatte er sie aus ihrer Heimat, aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen, doch hier würden sie wenigstens eine Chance haben, dachte John, auch wenn er rein gar nichts über dieses Universum wusste. Allem Anschein nach unterschied es sich zumindest nicht gravierend von seinem eigenen. Bestimmt gab es in dieser Welt soziale Einrichtungen, die sich um die Neuankömmlinge kümmern würden. Sie würden überleben. Und das war mehr, als sie in ihrer Heimat hoffen konnten. Er hatte das Richtige getan. Oder? Hatte Prime ihm nicht dasselbe angetan? Ihn aus seiner Heimat gerissen? John schluckte, aber zugleich wurde er wütend. Er hatte der Frau und deren Tochter das Leben gerettet, verdammt nochmal! Er hatte sie nicht einfach so, aus einer Laune heraus, entführt! Er war nicht wie Prime.
Von weitem beobachtete er, wie ein Krankenwagen neben den neugierigen Studenten hielt. Die hintere Tür öffnete sich, zwei Sanitäter sprangen heraus und widmeten sich sofort der blutenden Frau. Kurz darauf raste ein Wagen der Campuspolizei direkt an John vorbei und bremste mit quietschenden Reifen neben dem Krankenwagen.
John ging weiter. Er musste einen geschützten Ort finden, um sich zu waschen und seine Gedanken zu ordnen. Am Ende des Weges tauchte ein niedriges, frei stehendes Gebäude auf. Gut möglich, dass sich darin Umkleidekabinen befanden. Mit etwas Glück würde er sich wieder als Student ausgeben können, wie damals in der Physikbibliothek. Allerdings
waren sein Hemd und seine Jacke durchtränkt von Blut, seine Schuhe nass von geschmolzenem Schnee. Er hinterließ feuchte Fußabdrücke auf dem trockenen Schotter des Weges; jeder Schritt war von einem deutlichen Schmatzen begleitet.
Erst jetzt bemerkte er, dass ihm die Gegend vertraut war: Hinter dem niedrigen Gebäude lag das Studentenwerk, das im letzten Universum verbarrikadiert gewesen war, und nicht weit davon ragte die McCormick Hall auf. Über allem erhob sich die Sternwarte.
Er hatte Recht gehabt: Es waren tatsächlich Umkleidekabinen. Zögerlich machte John einen Schritt in die Männerumkleide, aber niemand stellte sich ihm in den Weg. Drinnen zogen sich gerade ein paar Studenten um, doch keiner von ihnen blickte auf. John ging schnell in eine der Duschkabinen, bevor jemand seine merkwürdige Erscheinung bemerken konnte.
Ohne Zeit zu verlieren, hängte er das Gerät an einen Haken und zog sich aus. Nach dem Duschen hielt er seine Kleidung unter das Wasser, um sie wenigstens einigermaßen zu reinigen. In roten Strudeln verschwand das Blut im Abfluss. Einige Blutspritzer, die an den Wänden der Dusche gelandet waren, musste er mit den Händen von den Kacheln waschen.
Später, der Umkleideraum hatte sich mittlerweile geleert, trocknete John seine Klamotten, so gut es ging, unter dem Handtrockner. Er wünschte, er hätte sie in eine Waschmaschine stecken können, aber immerhin war es ihm gelungen, das meiste Blut zu entfernen. Während der Trockner dröhnte, fragte er sich, was wohl mit der Frau und ihrer Tochter geschehen würde. Wahrscheinlich würden sie nie begreifen, was passiert war – aber er hoffte, dass sie wenigstens einen Weg finden würden, damit umzugehen. Genau wie er selbst.
Die halbwegs trockene, aber noch ziemlich steife Kleidung auf dem Leib, ging John über den angrenzenden Innenhof auf die McCormick Hall zu. Vor seinem inneren Auge schob sich das Bild, das dieser Platz im letzten Universum abgegeben hatte, über die saftige Wiese, die jetzt vor ihm lag. Statt kahle, verkrüppelte Äste in einen schwarzen Himmel zu strecken, trugen die Bäume hier ein herbstlich goldenes Blätterkleid. Auf dem Gras warfen Studenten Frisbees hin und her oder genossen einfach nur die Sonne. Heute musste einer der letzten warmen Tage des Jahres sein; manche Studenten trugen sogar noch kurze Hosen. John schaffte es einfach nicht, die kräftigen, gesunden Menschen dieses Universums mit den halbverhungerten Gestalten der letzten Welt zusammenzubringen. Es war unfassbar: Dort hatte die Sonne schon seit drei Jahren nicht mehr geschienen, und hier nahm man sie als völlig selbstverständlich hin.
Wie sollte John da Schuldgefühle empfinden, die Frau und das Mädchen hierhergebracht zu haben? Wäre er dazu in der Lage gewesen, hätte er jeden einzelnen Bewohner des letzten Universums hierherverpflanzt. Die Menschen dort dachten, es existiere keine Alternative zu ihrer Welt und sie hätten keine Wahl, doch sie irrten sich. Hier, nur ein Universum weiter, gab es
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