Die Mauern des Universums - Melko, P: Mauern des Universums - The Walls of the Universe
Woher sollte sie auch wissen, dass ihre Eltern Mörder waren?
Als Prime am nächsten Tag in der Fabrik ankam, stellte er überrascht fest, dass man ihn den Springern zugeteilt hatte – was bedeutete, mit sechs anderen Arbeitern im entsprechenden Raum zu sitzen und auf einen Stau am Fließband zu warten. Konkret hieß das, fast den ganzen Tag nichts zu tun zu haben.
Die Springer rekrutierten sich meist aus langjährigen Gewerkschaftsmitgliedern, denen man diese Arbeit zugeschustert
hatte, damit sie eine ruhige Kugel schieben konnten. Bei Primes Anblick starrten sie ihn allesamt durchdringend an. Prime hatte sofort den Verdacht, dass Carsons Vater hinter seiner neuen Aufgabe steckte.
Das untätige Herumsitzen trieb Prime fast in den Wahnsinn. Ja, man bezahlte ihn fürs Nichtstun, aber unter den mürrischen Blicken alteingesessener Arbeiter. Er versuchte nicht einmal, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Schweigend würgte er das Mittagessen herunter, das er sich mitgebracht hatte, und sah zu, wie die sechs anderen eine Art Poker mit leicht abgeänderten Regeln spielten.
Irgendwann war auch diese schier endlose Schicht zu Ende. Prime ergriff sofort die Flucht.
Zu Hause antwortete zunächst niemand auf seine Begrüßung, denn Casey war unter der Dusche und Abby schlief. Aber über der Stuhllehne hingen schmutzige Klamotten: ein Overall, ein kariertes Hemd. Und die Sportschuhe, die neben der Tür standen, waren voller Matsch.
»Wo warst du?«, fragte Prime scharf, als Casey aus der Dusche kam.
Casey musterte ihn kühl. »Wenn du Abby aufweckst, musst du sie auch wieder zum Schlafen bringen.«
»Wo warst du? Sag es!«
»Ich hab dich schon verstanden.«
»Also?«
»Bei deiner Mutter. Wir haben Zwiebeln gesteckt und Sträucher gepflanzt.«
»Und außerdem hast du …« Prime war überzeugt davon, dass sie die Leiche umgebettet hatte.
»Nein, was denkst denn du? Aber unser Freund hat jetzt eine kleine Fichte in der Brust stecken, und eine dickere Erddecke hat er auch bekommen.«
»Hast du ihn etwa … gedüngt?«
»Na ja, ich hatte eben ein paar Bäumchen mitgebracht, und als dann beim Haus kein Platz mehr war, hab ich vorgeschlagen, einen in der Nähe der Straße zu pflanzen. Jetzt sieht man gar nicht mehr, dass die Erde dort umgegraben wurde.«
»Aber wird der Baum auch anwachsen? Ein toter Baum wäre das reinste Hinweisschild.«
Casey zuckte die Achseln. »In der Baumschule waren sie ganz zuversichtlich.«
Seufzend schüttelte Prime den Kopf.
»Darf ich mir jetzt die Haare trocknen?«, fragte Casey.
»Ja. Natürlich.«
Prime setzte sich aufs Sofa und starrte die Wand an. Es machte ihm Angst, wie sehr er Casey brauchte. Bei dem Gedanken, dass er von ihren Fähigkeiten, von ihrer Intelligenz abhängig war, lief es ihm kalt den Rücken herunter. So lange hatte er sich auf niemanden verlassen müssen als auf sich selbst – ja, er konnte sich nicht mal mehr an eine Zeit erinnern, in der es anders gewesen war.
Irritiert stellte er fest, dass er von Kopf bis Fuß zitterte. Angst und Frustration bissen sich immer stärker in ihm fest. Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen. »Ruhig«, flüsterte er sich zu, »nur die Ruhe bewahren.« Langsam ließ er die Luft ausströmen, die Augen weiter starr auf die Wand gerichtet.
»Was ist mit dir?« Casey stand vor der Badezimmertür. Ein Handtuch um den Körper geschlungen, rubbelte sie sich mit einem anderen die Haare trocken.
»Was meinst du?«
»Du weinst.«
»Ich weine?« Prime fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Es war nass von Tränen. »Hab ich gar nicht bemerkt.«
»Was ist denn?«, fragte Casey, während sie sich auf seinen Schoß kuschelte.
Prime traute seinen Ohren kaum. »Wir haben einen Menschen getötet! Das ›ist‹. Ich habe einen Menschen getötet! Und ich hatte kein Recht dazu.«
Sie drückte sich an ihn. »Ich weiß. Ich weiß.«
Plötzlich brach es aus Prime heraus. »Es tut mir so leid, Casey, es tut mir so leid, was ich dir angetan habe. Und was ich anderen angetan habe.« Auch was er Johnny Farmer angetan hatte, schmerzte ihn jetzt. Wie hatte er ihn einfach so zwischen den Universen aussetzen können, völlig auf sich gestellt, ohne jede Chance, jemals in seine Heimat zurückzukehren? »Was soll ich jetzt nur tun?«
»Ich glaube, das hab ich dich noch nie sagen hören«, bemerkte Casey leise.
»Was?«
»Dass dir etwas leidtut.«
Prime wusste nicht, was er dazu sagen sollte. »Es tut mir wirklich leid«, war alles, was ihm
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