Die Maurin
sich.
Bis zum Morgengrauen warteten sie in der Hütte, ob weitere Überlebende zu ihnen stießen, doch es kam niemand mehr. Jaime befahl den anderen, Zahra auf keinen Fall hinausgehen zu lassen, und schlich zurück zur Farm. Eine gute Stunde später kam er wieder und schüttelte den Kopf.
»Aber sie können doch nicht alle tot sein«, entfuhr es Zahra. Zehn Soldaten, vier Wachmänner, fünf Diener und acht Arbeiter hatten die Farm verteidigt.
»Wir müssen hier weg«, knurrte Jaime. »Falls sie den Wald absuchen.« Er verteilte die Proviantsäcke an die Erwachsenen und setzte sich Abdarrahman auf die Schultern. Stumm und mit zusammengebissenen Zähnen führte er ihren kleinen Trupp gen Granada.
6.
Granada
5 . Juni 1490
F ünf Tage brauchten Zahra und ihre Familie, bis sie Granada erreicht hatten. Wegen der umherstreifenden christlichen Soldaten hatten sie nur nachts gehen können und viele Umwege in Kauf nehmen müssen. Entkräftet, hungrig und mit zerrissenen Kleidern betraten sie ihr Stadthaus. Die Diener waren außer sich vor Freude und Erleichterung, sie gesund und wohlbehalten wiederzusehen. Einer von ihnen eilte sofort in die Alhambra, um Raschid ihre Ankunft zu melden, welcher, wie eine Dienerin ihnen unter Tränen erzählte, schon halb wahnsinnig vor Sorge um sie war und zwei Suchtrupps losgeschickt hatte, die seit Tagen die Umgebung der Farm nach ihnen durchkämmten.
Seit Zahra mit Ahmed nach Córdoba gegangen war, hatte sie ihr Elternhaus nicht mehr betreten. Nun mutete es sie seltsam an, nicht ihren Vater anzutreffen und zu wissen, dass er auch niemals wieder dort sein würde. Voller Wehmut dachte sie an ihre Kindheit zurück, in der sie ihn angehimmelt hatte – und dachte voller Scham an all die Schandtaten, mit denen sie ihn erzürnt hatte. Beim Allmächtigen, wie oft hatte sie sich in seinem Arbeitszimmer einfinden und eine Standpauke über sich ergehen lassen müssen! Sie warf einen kurzen Blick in sein Arbeitszimmer und sah an der Unordnung auf dem Schreibtisch, dass sich Raschid das Zimmer ihres Vaters inzwischen wahrhaft zu eigen gemacht hatte. Bei Abdarrahman war immer alles aufs peinlichste geordnet gewesen.
Schon wenig später stürmte ihr Bruder ins Haus. Er presste seine Frau und seine Kinder an sich und schließlich auch alle anderen. »Gott hat meine Gebete erhört«, rief er dabei immer wieder. »Er hat euch wohlbehalten hergeführt. Beim Allmächtigen, welche Angst habe ich um euch ausgestanden!«
Einer der auf der Farm getöteten Diener war der Ehemann Marias, die Zahra und Raschid einst nach Raschids Befreiung mit nach Hause gebracht hatten und die seit zwei Jahren die alte Köchin ersetzte. Stumm vor sich hin weinend, saß sie in einer Ecke, und auch Raschids Versicherung, dass er für sie und ihr erst vor kurzem geborenes Kind sorgen würde, konnte sie nicht trösten. Tamu zog sie an sich und bot an, sich um die Zubereitung des Essens zu kümmern. Zahra staunte, wo die inzwischen so betagte Frau ihre Energie hernahm, da sie von ihrer Flucht ebenso zerschlagen sein musste wie sie, und nickte ihr dankbar zu.
Auch von den Kindern fielen die Strapazen der Reise schnell ab: Mahdi und Deborahs ältere Kinder zeigten Abdarrahman das Haus und den Patio, während Chalida an Zahras Seite klebte und sie mit Fragen löcherte. Wem das Haus gehöre, wie lange sie blieben, ob Zahra als Kind hier gelebt habe – all das wollte sie wissen. Obwohl sich Zahra bewusst war, dass die Dreijährige nur wenig von dem verstand, was sie ihr erklärte, gab sie ihr doch bereitwillig Auskunft und war gerührt über den Ernst, mit dem sie ihren Ausführungen folgte. Ihr fielen Tamus Worte ein, als diese ihre Tochter zum ersten Mal gesehen hatte, und gab ihr im Stillen recht: Chalida war ein besonderes Kind. Sie strich ihr die dunklen, schon fast schulterlangen Locken aus dem Gesicht und küsste sie mit wehem Herzen auf die Stirn.
Nach dem Abendessen rief Raschid die Erwachsenen ins Arbeitszimmer. Ihnen allen war klar, dass der Angriff auf die Seidenfarm nur ein Vorgeschmack auf das war, was sie in Granada erwartete. »Aber in der Stadt sind wir besser geschützt«, versicherte ihnen Raschid. »Boabdil hat die Festungsmauern in den letzten Monaten erneut verstärkt, und die Truppen sind bestens auf die Angriffe der Christen vorbereitet. Sicherer als hier können wir derzeit nirgends sein!«
»Was aber noch lange nicht bedeutet, dass wir hier sicher wären«, knurrte Jaime, der als Einziger stehen
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