Die Maya-Midgard-Mission
zog sie hinter sich die Treppe hinauf.
* **
7 Im Rhythmus
der vertrauten Arbeit wandelte sich Daria Delfontes Knoten von Schuld- und Angstgefühlen zum ersten Mal seit Wochen in Zorn – und ihr Zorn in Erregung. Zum ersten Mal seit Monaten gelang es ihr für Augenblicke, den Krebs, die geplatzte Scheidung, die Familienprobleme und das Dschingis-Khan-Desaster – einfach das gesamte Elend – zu vergessen.
Mit einem Spatel, wie ein Zahnarzt ihn benutzen würde, und einem Rasierpinsel aus Dachshaar legte die Archäologin immer mehr Teile des Oberkörpers der Mumie frei. Der Brustkorb war eingefallen. G ewebereste hatten sich mit der Haut zu einer undefinierbaren, ledrigen Hülle verbunden. Die Wunde von der kupfernen Speerspitze war nicht sehr tief, aber eindeutig. Ob die Nordmann-Mumie aber Opfer eines Verbrechens oder kriegerischer Auseinandersetzungen geworden war, würde erst die Obduktion ergeben. Mit einem Löffel schüttete Daria Delfonte Erdaushub in ein Sieb. Ein schwarzer Klumpen von der Größe eines Fingernagels erregte ihre Aufmerksamkeit. Vorsichtig befreite sie den Klumpen mit Hilfe einer Nadel von Erde und Schmutz und ballte triumphierend ihre Linke. Soeben hatte sie unter der rechten Brustwarze des Toten einen silbernen Thorshammer gefunden.
Noch ein Indiz für die Herkunft der Mumie!
Wenn sie als Wissenschaftlerin weiterhin ernst genommen werden wollte – und sie wünschte sich nichts sehnlicher als Anerkennung, Lob und Erfolg, sie war ein Mensch, verdammt! –, dann brauchte sie nach dem Debakel mit der kaukasischen Mafia und dem getürkten Grab ein absolut überwältigendes, epochales, überzeugend sensationelles Musterbeispiel archäologischer Akribie. Ihr schwebte da eine Kreuzung zwischen dem Ei des Kolumbus und dem Stein der Weisen vor, oder besser noch: etwas in der Art des Heiligen Grals.
Deshalb hatte sie das 'Maya-Midgard-Projekt' nur vorgeschoben und in ein paar hübsche pseudowissenschaftliche Worte verpackt, um potentielle Geldgeber zu ködern, was ja auch zunächst gelungen war. In Wahrheit genügte ihr der Nachweis von Wikinger-Spuren in der Karibik nicht. Die ambitionierte Forscherin hatte sich für einen Befreiungsschlag entschieden. Sie hatte sich das größte Geheimnis seit dem Verschwinden der Maya im achten Jahrhundert nach Christus ausgesucht, um ihr Leben zu retten: Die Bücher der Sechsten Sonne , die Bibel der Maya, die spirituelle Essenz des weisesten Volkes der Menschheitsgeschichte.
Ja! Es ging um ihr Leben. Und um das Leben von Millionen. Vie lleicht ging es sogar um das Überleben der Menschheit. Die Zeit der Bescheidenheit war längst abgelaufen.
Daria Delfonte spürte seit Monaten, dass nicht nur ihre Reputation als Wissenschaftlerin eng mit dem Fund der Bücher der Sechsten Sonne verknüpft sein würde. Könnte sie diese legendäre Bibel der Maya finden, wäre ihr Platz an der Sonne auf ewig gesichert. Der Olymp war der reinste Maulwurfhügel dagegen. Aber vielleicht hing viel mehr als ihr persönliches Wohlergehen von den Büchern der Sechsten Sonne ab.
Aus ihren Recherchen wusste die Archäologin, dass sich die Maya – wie kein anderes Volk jemals zuvor oder danach – mit der Sonne b eschäftigt hatten. Diese Menschen einer Hochkultur waren den Gegenwärtigen in vielerlei Hinsicht überlegen. Naturnähe, spirituelle Weitsicht, ein Bewusstsein und ein Gefühl für die Verbundenheit mit allen Erscheinungen des Lebens prägten die Menschen, die sich den Namen 'Maya' (= Illusion) gaben. Für Vater Sonne, den Mittelpunkt und den Lebensspender unserer Galaxie entwickelten die Maya ein Gespür, das auf wissenschaftlicher Beobachtung, spiritueller Annäherung und kultischer Verehrung basierte. Ob Mutter Erde und ihre Kinder, die Lebewesen dieses kleinen, blauen Planeten, in Gefahr waren, und wie drohende Gefahren abgewendet werden könnten, davon kündeten nach Überzeugung Daria Delfontes die Bücher der Sechsten Sonne.
Wie die meisten Menschen kannte die Archäologin die gängigen Pr ophezeiungen in Hinsicht auf das Schicksal der Erde, das mit dem 21.12.2012 verbunden war. Vor allem waren ihr die Fehldeutungen und Missverständnisse vieler Wissenschaftler und Esoteriker bekannt. Der aktuelle Stand der Mayakalender-Forschung ließ sich treffend mit einem Zitat des Schriftstellers Charles Fort umschreiben: "Was wir als Wissen bezeichnen, ist von Gelächter umgebene Ignoranz." Daria vermutete, dass eben diese Ignoranz und die öffentliche
Weitere Kostenlose Bücher