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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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schlecht?«
    »Nein, absolut nicht.« Mona erschauerte am ganzen Leibe, und sie fing an, ein kleines Liedchen zu summen; sie fragte sich nicht, was es war, etwas Hübsches eben, etwas, das sie sich vielleicht gerade ausgedacht hatte.
    Sie drehte sich um und schaute den Stapel der unwiderstehlichen Kartons an.
    »Auf den Kartons ist es auch«, sagte Mona. »Riechst du es hier, richtig kräftig? Von ihm. Weißt du, ich habe noch nie ein Mitglied der Familie dazu bringen können, zuzugeben, daß sie diesen Geruch riechen können.«
    Sie legte die Hände auf den Pappkarton vor ihr. Das war der richtige. Er roch durchdringend nach ihm. Hatte er diese Blätter mit seinem eigenen Blut beschrieben? Wenn man daran dachte, daß sein Leichnam da unten lag… Ich sollte diesen Leichnam ausgraben. Ich meine, es hat sich doch alles geändert; das müssen Rowan und Michael akzeptieren. Entweder das, oder ich werde es ihnen gar nicht erst erzählen. Ich meine, das ist doch hier eine völlig neue Entwicklung, und die betrifft mich.
    »Was für Leichen werden wir ausgraben?« Mary Jane zog die Stirn kraus.
    »Ach, hör auf, meine Gedanken zu lesen! Sei keine Mayfair-Schreckschraube, sei eine Mayfair-Hexe. Hilf mir mit dieser Kiste.«
    Mona schlitzte den Klebstreifen mit einem Fingernagel auf und bog den Pappdeckel zurück.
    »Mona, ich weiß nicht, das Zeug gehört jemand anderem.«
    »Ja«, sagte Mona. »Aber dieser Jemand ist Teil meines Erbes.«
    Sie hatte das ganze braune Packpapier zurückgeschoben – das Zeug war eingepackt, als wäre es das Marie-Antoinette-Porzellan, das nach Island verfrachtet werden mußte -, und sie sah das oberste Blatt eines in dünnes Plastik gewickelten Stapels, der von einem dicken Gummiband zusammengehalten wurde. Gekritzel, wahrhaftig, spinnenartiges Gekritzel mit sehr langgezogenen ls und ts und ys und kleinen Vokalen, die in manchen Fällen nicht größer als Punkte waren. Aber sie konnte es lesen.
    Sie formte die Hand zur Klaue und zerriß das Plastik.
    »Mona Mayfair!«
    »Mut, Mädchen!« sagte Mona. »Was ich hier tue, hat einen Sinn. Willst du meine Verbündete und Vertraute sein, oder möchtest du mich hier und jetzt im Stich lassen? Du kannst in dein Zimmer gehen und fernsehen, wenn du nicht bei mir sein willst; du kannst nach draußen schwimmen gehen oder Blumen pflücken oder unter dem Baum nach Leichen buddeln -« ‘
    »Ich will deine Verbündete und Vertraute sein.«
    »Dann leg deine Hand hierher, Cousine vom Lande. Fühlst du etwas?«
    »Uuuuuh!«
    »Er hat es geschrieben. Was du hier siehst, ist die Handschrift eines nachweislich nicht menschlichen Wesens! Siehe.«
    Mary Jane kniete sich neben sie. Ihre Fingerspitzen lagen auf dem Blatt. Sie hatte die Schultern hochgezogen, und ihr flachsblondes Haar hing zu beiden Seiten ihres Gesichts herunter wie eine spektakuläre Perücke. In ihren weißen Brauen auf der bronzebraunen Stirn fing sich das Licht, und man konnte praktisch jedes einzelne Härchen erkennen. Was dachte, fühlte, sah sie da? Was bedeutete der Ausdruck in ihren Augen? Die Kleine ist nicht dumm, das muß man ihr lassen, sie ist wirklich nicht dumm. Das Blöde ist nur…
    »Ich bin so müde«, sagte Mona plötzlich, und sie merkte es, kaum daß sie es ausgesprochen hatte. Sie legte eine Hand auf die Stirn. »Ich frage mich, ob Ophelia wohl schlafen gegangen ist, bevor sie ertrank.«
    »Ophelia? Du meinst Hamlets Ophelia?«
    »Oh, du weißt, was ich meine. Das ist super. Weißt du, Mary Jane, ich liebe dich.«
    Sie schaute Mary Jane an. Ja, dies war die unübertreffliche Cousine, die Cousine, die eine großartige Freundin sein könnte, die Cousine, die alles wissen könnte, was Mona wußte. Und eigentlich wußte niemand, wirklich niemand alles, was Mona wußte.
    »Aber ich bin so schläfrig.« Sie ließ sich sanft zu Boden sinken, streckte erst die Beine, dann die Arme aus, bis sie flach auf dem Rücken lag und zu dem strahlenden, hübschen Kronleuchter hinaufschaute. »Mary Jane, würdest du bitte diese Kiste durchsehen? Wie ich Cousin Ryan kenne – und ich kenne ihn -, ist die Genealogie markiert.«
    »Ja«, sagte Mary Jane.
    Wie erfrischend, daß sie aufgehört hatte, zu widersprechen.
    »Nein, ich widerspreche dir nicht mehr. Ich denke, jetzt sind wir schon so weit gegangen, und wo das nun mal die Schrift eines nachweislich nicht menschlichen Wesens ist und wo wir nun mal so weit gegangen sind… na, was ich sagen will: Ich kann ja alles wieder zurücklegen, wenn wir

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