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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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es vor, daß ein Mann oder eine Frau in ihrer Vorzüglichkeit für so makellos von Gestalt und schön von Angesicht gehalten wurde, für so groß und so gut proportioniert, daß die Paarung mit ihm oder ihr zur Hervorbringung wunderschöner Nachkommen als große Ehre galt. Dies führte zu Wettbewerben und Spielen, von denen es eine große Vielfalt gab.
    Aber sie sind die einzigen schmerzhaften oder schwierigen Dinge, an die ich mich erinnern kann, und ich will jetzt nicht davon erzählen. Vielleicht, weil diese Spiele die einzigen Male waren, bei denen ich Verzweiflung empfand. Auch verloren sich diese Rituale, als wir in das Land des bitteren Winters reisten. Von da an hatten wir zu viele wirkliche Sorgen.
    Wenn das Paar schließlich die Erlaubnis erhalten hatte – ich erinnere mich, daß ich einmal zwanzig verschiedene Leute um Erlaubnis anflehen und endlose Tage lang debattieren und warten mußte -, versammelte sich der Stamm und bildete den Kreis und noch einen und noch einen, immer weiter, bis es den Leuten keinen Spaß mehr machte.
    Das Trommeln und Tanzen begann. Wenn es Nacht wurde, erschienen die Fackeln. Das Paar umarmte sich und spielte liebevoll miteinander, solange es ging, bevor der entscheidende Augenblick gekommen war. Es war ein langsames Fest. Wenn es eine Stunde dauerte, war es schön, wenn es zwei wurden, war es unvergleichlich. Viele konnten es nur eine halbe Stunde durchhalten. Aber wie dem auch sei, wenn der Höhepunkt kam, hielt er das Paar erstaunlich lange gefangen. Wie lange? Ich weiß es nicht. Länger, glaube ich, als Menschen oder von Menschen geborene Taltos es ertragen könnten. Vielleicht eine Stunde, vielleicht länger.
    Wenn das Paar sich schließlich voneinander löste, dann geschah es, weil der neue Taltos geboren wurde. Die Mutter schwoll schmerzhaft an. Der Vater half mit, das lange, ungelenke Kind aus der Mutter zu ziehen; er wärmte es mit seinen Händen und legte es der Mutter an die Brust.
    Alle drängten sich heran, um dieses Wunder zu sehen, denn das Kind, das als Wesen von vielleicht sechzig bis neunzig Zentimetern Länge auf die Welt gekommen war, sehr schlank und zart und leicht zu verletzen, wenn man nicht behutsam damit umging, begann sofort zu wachsen und länger und größer zu werden. Und innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten wuchs es oft schon zu voller, majestätischer Größe heran. Sein Haar wallte herab, die Finger streckten sich, und die zarten Knochen des Körpers, elastisch und stark, formten sich zu einer großen Gestalt.
    Die Mutter lag danach wie tot und schlief den oberflächlichen Schlaf der Wöchnerin. Aber das Kind war bei ihr und sprach mit ihr, und oft versank die Mutter überhaupt nicht in Träumen, sondern sprach und sang zu ihrem Jungen, obwohl sie immer benommen und oft naßgeschwitzt war, und sie entlockte dem Jungen seine ersten Erinnerungen, damit das Junge sie nicht vergaß.
    Wir können durchaus vergessen.
    Wir vergessen sehr leicht. Wenn man aber etwas erzählt, so merkt man es sich, man prägt es sich dabei ein. Etwas zu erzählen, das bedeutet, gegen die furchtbare Einsamkeit des Vergessens zu kämpfen, gegen die schreckliche Unwissenheit, die Traurigkeit. Das dachten wir wenigstens.
    Diese Nachkommenschaft, ob männlich oder weiblich – und meist war sie weiblich -, rief große Freude hervor. Sie bedeutete uns mehr als nur die Geburt eines einzelnen Wesens. Sie bedeutete, daß das Leben des Stammes gut war; das Leben des Stammes würde weitergehen.
    Natürlich zweifelten wir nie daran; aber es gab immer Legenden, denen zufolge es zuzeiten anders gewesen war: Da hätten die Frauen verkümmerten Nachwuchs zur Welt gebracht oder gar keinen, und der Stamm sei auf ein paar wenige zusammengeschrumpft. Gelegentliche Seuchen machten die Frauen und manchmal auch die Männer unfruchtbar.
    Der Nachwuchs wurde sehr geliebt und von beiden Eltern versorgt. Wenn es allerdings eine Tochter war, wurde sie unter Umständen nach einer Weile an einen Ort geschafft, wo nur Frauen lebten. Allgemein aber war der Nachwuchs das Band der Liebe zwischen Mann und Frau. Sie strebten nicht danach, einander noch auf andere, vielleicht auf heimliche Weise zu lieben. In Anbetracht dessen, was die Geburt bei uns bedeutete, hatten wir keinerlei Vorstellungen von Ehe oder Monogamie, und wir dachten nicht daran, immer bei einer Frau zu bleiben – im Gegenteil, das kam uns frustrierend vor, gefährlich und töricht.
    Es kam durchaus manchmal vor, da bin ich sicher.

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