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Die Mayfair-Hexen

Die Mayfair-Hexen

Titel: Die Mayfair-Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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muß. Aber niemand wollte darüber sprechen! Solche Dinge kamen in den Geschichten nicht vor! Wir hatten keine Erinnerung an blutige Auseinandersetzungen, Vergewaltigungen, Unterwerfungen einer Gruppe durch eine andere. Und es herrschte großes Entsetzen vor der Gewalt.
    Wie Gerechtigkeit geübt wurde, weiß ich nicht. Wir hatten keine Führer im strengen Sinne, aber wir hatten Erinnerungen an Weise, an Leute, die sich bei Bedarf versammelten und sozusagen eine formlose Elite bildeten, an die man sich wenden konnte.
    Ein Grund für die Annahme, daß es Gewalt gegeben haben muß, besteht darin, daß wir klare Vorstellungen von Gut und Böse hatten. Der gute Gott war der – oder die; diese Gottheit war unteilbar -, der uns das Land und unseren Unterhalt und unsere Freuden gegeben hatte. Der Böse aber hatte das schreckliche Land der bitteren Kälte geschaffen. Der Böse hatte seine Freude an Unfällen, bei denen Taltos ums Leben kamen, und hin und wieder fuhr der Böse auch in einen Taltos, aber das kam wirklich selten vor!
    Wenn diese vage Religion mit Mythen und Legenden ausgestattet war, so habe ich sie nie gehört. Blutopfer oder Beschwichtigungen waren kein Bestandteil unseres Gottesdienstes. Wir feierten stets den guten Gott, mit Liedern und Gedichten und in unseren Kreistänzen. Wenn wir tanzten und wenn wir das Kind machten, waren wir dem Guten Gott nah.
    Viele dieser alten Lieder gehen mir immer wieder durch den Kopf. Hin und wieder steige ich am frühen Abend auf die Straße hinunter und spaziere durch New York, einsam im Gedränge, und ich singe die Lieder, an die ich mich erinnere, und ich fühle mich wieder im verlorenen Land; ich höre den Klang der Trommeln und der Flöten und sehe die Männer und Frauen, wie sie im Kreis tanzen. In New York kann man so etwas tun; niemand nimmt Notiz. Ich finde es wirklich amüsant.
    Manchmal kommen andere New Yorker, die vor sich hin singen oder murmeln oder laut schwatzen, in meine Nähe; dann schwatzen oder singen sie mir etwas vor und lassen sich weitertreiben. Mit anderen Worten: Die Verrückten von New York akzeptieren mich. Und obwohl wir ganz allein sind, haben wir einander doch in diesen wenigen Augenblicken. Die Dämmerwelt der Großstadt.
    Danach fahre ich dann mit dem Auto hinaus und bringe Mäntel und wollene Schals zu denen, die so etwas nicht haben. Manchmal schicke ich auch Remmick, meinen Kammerdiener. Manchmal holen wir die Obdachlosen von der Straße herein, damit sie im Foyer schlafen können; wir geben ihnen zu essen und ein Bett. Doch dann fängt einer eine Prügelei an, zieht vielleicht sogar das Messer gegen einen anderen, und alle müssen wieder hinaus in den Schnee.
    Ah, das bringt mich zu einer weiteren Gefahr in unserem Leben im verlorenen Land. Wie habe ich das vergessen können? Es gab immer Taltos, die von der Musik gefangengenommen wurden und sich nicht mehr daraus befreien konnten. Es konnte die Musik der anderen sein, so daß diese aufhören mußten zu spielen, damit sie wieder freikamen. Aber sie konnten sich auch in ihren eigenen Gesang verstricken, und dann sangen sie, bis sie tot umfielen. Oder sie tanzten sich in den Tod.
    Ich bin oft in den Bann des Singens und Tanzens und Reimens geraten, aber ich bin doch immer wieder daraus aufgewacht, oder die Musik erreichte ihr zeremonielles Ende, oder ich wurde müde und geriet aus dem Takt. Wie dem auch sei, in Todesgefahr geriet ich nie. Und vielen anderen ging es wie mir. Aber es kamen immer auch welche auf diese Art um.
    Jeder glaubte, daß ein Taltos, der tanzend oder singend gestorben war, zu dem guten Gott gegangen war.
    Aber niemand redete viel darüber. Der Tod war einfach kein geeignetes Thema für die Taltos. Alles Unangenehme wurde vergessen. Das war eines unserer fundamentalen Ideale.
    Als die Katastrophe kam, lebte ich schon lange. Aber ich weiß nicht, wie ich es messen soll. Ich schätze, es waren an die zwanzig, dreißig Jahre.
    Die Katastrophe war eine ganz und gar natürliche Angelegenheit. Später erzählten die Leute Geschichten von römischen Soldaten oder Pikten, die uns aus unserem Land vertrieben hätten. Aber so etwas hat es nicht gegeben. Im verlorenen Land haben wir nie einen Menschen zu Gesicht bekommen. Wir kannten keine anderen Völker. Wir kannten nur uns selbst.
    Eine große Umwälzung der Erde brachte unser Land ins Wanken und ließ es auseinanderbrechen. Es begann mit leisem Rumoren und mit Rauchwolken, die den Himmel bedeckten. Die Geysire fingen an, uns

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