Die Mayfair-Hexen
nach Napoleonville, und du mußt mir sagen, wo dieses Altersheim liegt.«
Um Michaels Willen hatte sie die ganze Geschichte jetzt noch einmal wiederholt, und der Ausdruck des Erstaunens in Michaels Gesicht bekam eine unfreiwillige Komik.
»Honey, was ist denn passiert?« hatte Michael gedrängt.
»Genau das ist passiert: Ich kam durch die Tür ins Altersheim spaziert, und zack, mitten im Freizeitraum, oder wie immer sie das da auch nennen, saß meine Großmutter, und sie blickte zu mir auf, sah mich an, und sagte nach all den Jahren bloß: ›Wo hast du gesteckt, Mary Jane? Bring mich nach Hause, chère, ich habe das Warten satt.‹«
Sie hatten die falsche Frau aus dem Altersheim begraben.
Die richtige Granny, Dolly Jean Mayfair, hatte noch gelebt, und sie hatte jeden Monat einen Sozialrentenscheck mit einem fremden Namen darauf bekommen, ohne je einen Blick darauf zu werfen. Eine fürstliche Inquisition hatte stattgefunden, um das zu beweisen, und dann waren Granny Mayfair und Mary Jane Mayfair in die Ruinen der alten Pflanzervilla zurückgekehrt, um dort zu wohnen, und ein Team von Mayfairs hatte sie mit dem Nötigsten versorgt, während Mary Jane draußen gestanden, mit der Pistole auf Limonadenflaschen geschossen und erklärt hatte, sie seien bestens ausgestattet und könnten allein für sich sorgen. Sie habe unterwegs ein paar Dollar ve r dient, und sie sei irgendwie versessen darauf, die Dinge auf ihre eigene Art zu regeln, vielen herzlichen Dank.
»Und da haben sie die alte Dame mit dir in dem überfluteten Haus wohnen lassen?« hatte Michael ganz unschuldig gefragt.
»Honey, nach dem, was sie im Altersheim mit ihr angestellt hatten, was zum Teufel wollten sie da sagen, wenn sie jetzt mit mir zusammenwohnte?«
»Es war alles unsere Schuld«, sagte Celia. »Wir hätten diese Leute im Auge behalten sollen.«
»Bist du sicher, daß du nicht in Mississippi und vielleicht sogar in Texas aufgewachsen bist?« hatte Mona gefragt. »Du hörst dich an wie ein Amalgam des kompletten Südens.«
»Was ist denn ein Amalgam? Siehst du, da bist du im Vorteil. Du hast Schulbildung. Ich hab mich selbst gebildet. Zwischen uns liegt ein Unterschied, so groß wie die Welt. Es gibt Wörter, die ich nicht auszusprechen wage, und ich kann die Lautschrift im Lexikon nicht lesen.«
»Willst du denn zur Schule gehen, Mary Jane?« Michael hatte sich von Sekunde zu Sekunde mehr von ihr umgarnen lassen; seine berauschend unschuldigen blauen Augen musterten sie ungefähr alle viereinhalb Sekunden einmal von Kopf bis Fuß. Er war viel zu clever, um seinen Blick auf den Brüsten und Hüften der Kleinen verweilen zu lassen, ja, nicht mal auf dem kleinen, runden Kopf – nicht, daß er zu klein gewesen wäre, nur eben irgendwie zierlich. So war sie einem letzten Endes vorgekommen: unwissend, verrückt, brillant, unordentlich und irgendwie zierlich.
»Ja, Sir, das will ich«, sagte Mary Jane. »Wenn ich reich bin, nehme ich mir einen Privatlehrer, wie Mona jetzt einen bekommt, wo sie die designierte Erbin ist und so, einen richtig schlauen Typen, der einem den Namen von jedem Baum s a gen kann, an dem man vorbeikommt, und wer zehn Jahre nach dem Bürgerkrieg Präsident war, und wie viele Indianer in Bull Run waren, und was Einsteins Relativitätstheorie eigen t lich bedeutet.«
»Wie alt bist du?« hatte Michael gefragt.
»Neunzehneinhalb, Big Boy«, hatte Mary Jane erklärt, und sie hatte sich mit den glänzend weißen Zähnen in die Unterlippe gebissen, eine Braue hochgezogen und gezwinkert.
»Diese Geschichte mit deiner Granny – ist das dein Ernst? Ist das wirklich passiert? Du hast deine Granny abgeholt, und…«
»Darling, es ist alles so passiert«, sagte Celia. »Genau so, wie das Mädchen sagt. Ich glaube, wir sollten ins Haus gehen. Ich glaube, wir regen Rowan auf.«
»Ich weiß nicht«, sagte Michael. »Vielleicht hört sie zu. Ich will nicht reingehen. Mary Jane, du kannst ganz allein für diese alte Dame sorgen?«
Beatrice und Celia hatten sofort bange Gesichter gemacht. Wenn Gifford noch gelebt hätte und dabei gewesen wäre, hä t te sie es auch getan. »Die alte Frau da draußen zu lassen!«
Und hatten sie Gifford nicht versprochen, sich darum zu kü m mern? Mona erinnerte sich daran. Gifford war wieder einmal in diesen hoffnungslosen Zustand der Sorge um alle möglichen Verwandten verfallen, und Celia hatte gesagt: »Wir fahren hinaus und sehen nach ihr.«
»Macht euch nur keine Sorgen um Granny«, hatte
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