Die Mayfair-Hexen
es sei klug, allein dort hinzureisen – unmittelbar an den Wurzeln nach Erkenntnissen über das Kleine Volk und die Taltos zu forschen? Natürlich hatte er g e nau das gefunden, was er gesucht hatte. Und dabei hatte man ihm eine Kugel vom Kaliber .38 in die Schulter geschossen.
Die Kugel war ein abscheulicher Schock gewesen. Nie zuvor war er auf diese Weise verwundet worden. Aber die wirklich enervierende Offenbarung war das Kleine Volk gewesen.
Als er jetzt zusammengesunken auf dem Rücksitz des Rolls saß, durchlitt er noch einmal jenen Anblick – die Nacht mit den schweren, wabernden Wolken und dem gespenstischen Mond, der wild überwucherte Bergpfad und der geisterhafte Klang der Trommeln und Hörner, der an den Felsen herauf widerhallte.
Erst als er die kleinen Männer in ihrem Kreis gesehen hatte, war ihm klargeworden, daß sie sangen. Erst da hatte er ihre Baritonstimmen gehört, aber ihre Worte waren ihm völlig unverständlich gewesen.
Er war sich nicht sicher gewesen, daß er an sie glaubte, bis zu diesem Augenblick…
Sie bewegten sich ringsherum im Kreis, kleinwüchsig, bucklig, hoben die kurzen Beine, wiegten sich vor und zurück; sto ß weise erklang der Rhythmus ihres Gesangs. Einige tranken aus Bechern, andere aus Flaschen. Sie trugen ihre Pistole n halfter über den Schultern und schossen mit der ausgelass e nen Heiterkeit von Wilden in die windige Nacht. Die Pistolen donnerten nicht, sondern knatterten in kurzen, straffen Salven wie Knallfrösche. Weit schlimmer waren die Trommeln, die furchtbar stampfenden Trommeln, und die paar Flöten, die sich wimmernd mit ihrer düsteren Melodie plagten.
Als die Kugel ihn traf, hatte er gedacht, sie komme von ihnen, von einem ihrer Wachtposten. Aber er hatte sich geirrt.
Drei Wochen waren danach vergangen, erst dann hatte er das Glen verlassen.
Und jetzt das Claridge’s. Jetzt hatte er Gelegenheit, in New Orleans anzurufen, mit Aaron zu reden, mit Mona zu spr e chen, zu erklären, wieso er so lange geschwiegen hatte.
Was das Risiko in London anging, die Nähe des Talamasca-Mutterhauses und derer, die versuchten, ihn umzubringen, so fühlte er sich hier unendlich viel sicherer als im Glen, wenige Augenblicke bevor ihn die Kugel zu Boden geschleudert hatte.
Jetzt wurde es Zeit, hinaufzugehen und diesen mysteriösen Freund Samuels kennen zu lernen, der bereits da war und von dem er nichts Genaueres wußte. Es wurde Zeit, zu tun, was der kleine Mann wollte, denn der kleine Mann hatte Yuri das Leben gerettet, hatte ihn gesundgepflegt, und jetzt wollte er, daß Yuri seinen Freund kennen lernte, der in diesem großen Drama irgendeine machtvolle Bedeutung hatte.
Yuri kletterte aus dem Wagen, und der freundliche britische Portier kam ihm rasch zu Hilfe.
Die Schulter tat ihm weh; es war ein stechender Schmerz. Wann würde er lernen, den rechten Arm nicht zu benutzen!
Die kalte Luft war schneidend, aber nur für einen Augenblick. Er ging geradewegs in die Lobby des Hotels und wandte sich der großen, geschwungenen Treppe zur Rechten zu.
Die leisen Klänge eines Streichquartetts kamen aus der nah e gelegenen Bar. Die Luft ringsum war still. Das Hotel beruhigte ihn und wiegte ihn in Sicherheit. Und es machte ihn glücklich.
Ein Wunder, daß all diese höflichen Engländer – der Portier, die Pagen, der freundliche Gentleman, der ihm auf der Treppe entgegenkam – keine erkennbare Notiz von seinem schmutzigen Pullover oder seiner verschmierten schwarzen Hose nahmen. Zu höflich, dachte er.
Er ging im ersten Stock den Korridor entlang, bis er zur Tür der Ecksuite kam, die der kleine Mann ihm beschrieben hatte. Sie war offen, und er gelangte in eine kleine, einladende Diele, die eher an eine behagliche Wohnung erinnerte; dahinter sah er einen großen Salon, verschossen, aber doch luxuriös, wie der kleine Mann es vorausgesagt hatte.
Der kleine Mann kniete vor dem Kamin und stapelte Brennholz. Er hatte seine Tweedjacke abgelegt, und das weiße Hemd spannte sich schmerzhaft über die kurzen Arme und den Buckel.
»Ja, ja. Kommen Sie schon rein, Yuri«, sagte er, ohne auch nur aufzublicken.
Yuri trat durch die Tür. Der andere Mann war da.
Und dieser Mann bot einen ebenso seltsamen Anblick wie der kleine, aber auf ganz andere Weise. Er war unerhört groß, wenn auch nicht in einem unmöglichen Maß. Er hatte blasse, weiße Haut und ziemlich natürlich aussehendes dunkles Haar, das er lang und offen trug und das überhaupt nicht zu dem feinen schwarzen
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