Die Medizinfrau
Mr. Danaher mich zurück.«
Amy bemerkte den Blick, den Olivia mit dem Mann tauschte. In den Augen der beiden las sie eine Geschichte, die weit mehr erzählte als von kranken Kindern und Schneestürmen, und Amy schwor sich, Olivia die ganze Wahrheit aus der Nase zu ziehen, später, wenn der finstere und gefährlich aussehende Gabriel Danaher gegangen war.
»Was geht hier vor?« Sylvester stürmte herein wie ein Ritter mit der Absicht, einen Drachen zu töten. Seine Augen hefteten sich auf Danaher, und sein vom Wind gerötetes Gesicht wurde einen Ton bleicher. »Sie!«
»Talbot«, grüßte Gabe mit einem Kopfnicken.
»Was soll das? Ist Olivia – o, da ist sie ja. Wenn Sie ihr etwas angetan haben, Sie Schurke, sorge ich dafür, daß Sie bis ans Ende Ihrer Tage im Gefängnis schmoren.«
»Sieht sie aus, als habe ich ihr etwas angetan?«
»Sie haben Nerven, Mann, sich hier blicken zu lassen, nachdem sie eine anständige Frau gewaltsam entführt haben und, und …« Er wollte noch etwas hinzufügen, schwieg jedoch, nachdem er mit Amy Blicke ausgetauscht hatte.
»Dann hätte ich sie wohl allein ins Tal reiten lassen sollen.«
»Ihre Unverschämtheiten werden Ihnen bald vergehen, wenn Sie Ihre gerechte Strafe bekommen für das, was Sie getan haben, und dafür werde ich sorgen, das versichere ich Ihnen!«
»Sylvester!« schaltete Olivia sich ein. »Bitte beruhige dich. Ich weiß nicht, warum du Mr. Danaher angreifst. Mir gegenüber hat er sich jedenfalls absolut anständig benommen. Ich habe ihn begleitet, um seine Kinder zu behandeln, die schwer an Diphterie erkrankt waren. In den Bergen wurde ich festgehalten, weil eine Lawine den Weg verschüttete. Ich wurde nicht gewaltsam entführt.«
Danaher hob eine Augenbraue, was ihm einen wahrhaft teuflischen Zug verlieh, und Sylvester bedachte Olivia mit einem ungläubigen Blick. »Willst du sagen, du bist freiwillig mit diesem Halunken gegangen?«
»Ich sehe keinen Grund, daß du Mr. Danaher beleidigst, Sylvester. Er hat mich ausgesprochen höflich behandelt. Selbstverständlich bin ich freiwillig mit ihm gegangen, Seine Kinder waren krank, und ich bin Ärztin.«
»Kinder? Haben Sie Kinder?« Sylvesters Augen verengten sich.
»Er hat zwei Töchter, die sehr krank waren.«
»Interessant.«
»Interessant ist wohl kaum das richtige Wort«, entgegnete Olivia. »Sie wären beinahe gestorben.«
Ein gespanntes Schweigen lag in der Luft. Amy fiel das Atmen schwer.
»Olivia«, sagte sie endlich in die knisternde Stille. »Du mußt völlig erschöpft sein. Warum erfrischst du dich nicht und ziehst dich um. Das Abendessen ist bald fertig. Und selbstverständlich ist Mr. Danaher eingeladen, zum Essen zu bleiben.«
»Nein, danke, Mrs. Talbot. Sehr freundlich, aber ich muß los.«
Sylvester machte den Mund auf, doch Olivias strenger Blick brachte ihn zum Schweigen. Etwas verlegen preßte er die Lippen aufeinander und begnügte sich mit einem wütenden Blick in Danahers Richtung.
»Ich bringe Mr. Danaher hinaus.« Olivia nahm seinen Arm, sie wirkte klein und zerbrechlich neben der muskulösen Männergestalt. Und für Amys Geschmack lag Olivias Hand allzu vertraut auf seinem Arm.
Olivia hatte nie die Kunst der Verstellung beherrscht, und ihre Geschichte hatte einen falschen Klang. Amy konnte es kaum erwarten, mit der Freundin alleine zu sein, um die wahre Geschichte zu erfahren.
»Es tut mir leid, Gabriel, so schlecht benimmt Sylvester sich sonst nie!« Olivia konnte sich nicht vorstellen, was in den Ehemann der Freundin gefahren war. Und auch Amy hatte Gabriel anfangs angesehen wie einen räudigen Hund.
»Mach dir nichts draus, Doc. Leute wie Sylvester Talbot tun immer noch so, als seien sie in ihren vornehmen Kreisen im Osten. Wenn du nicht nach ihren Regeln lebst, halten sie dich für den Abschaum.«
Schuldbewußt fragte Olivia sich, ob sie auch so dachte. Die Patienten, die sie in den Armenkliniken von New York und Paris betreute, waren Arbeiter, Leute von der Straße, deren Leiden sie behandelt hatte, aber hatte sie ihnen nicht ähnliche Verachtung entgegengebracht, wie Sylvester und Amy sie Gabriel gegenüber an den Tag legten?
Sie versuchte, ihre unangenehmen Gedanken hinter einem Lächeln zu verbergen. »Was für schreckliche Regeln hast du denn nicht beachtet?«
»Erstens habe ich eine Indianerin geheiratet. Vielleicht nenne ich dir eines Tages auch die anderen.«
Eines Tages würde es nicht geben. Olivia sah die Erkenntnis in seinen Augen und
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