Die Melodie des Todes (German Edition)
sprechen, in Ihrem Alter nicht ungewöhnlich sind. Auch ohne Gehirnoperation. Das hindert Sie in keiner Weise am Arbeiten – konzentrieren Sie sich einfach auf das, was Sie gut können.«
Und das wäre?, dachte Singsaker und stand auf. Die Antwort, die er sich selbst gab, war etwas diffus. Er war gut im Denken, dachte er. Mit oder ohne Gedächtnis.
»Wissen Sie, dass sich viele Ihrer Symptome bei extrem kreat iven Menschen finden, bei Künstlern und Wissenschaftlern? Das Problem ist, dass man zu viele Gedanken auf einmal im Kopf hat. Das Hirn schafft es nicht, sie alle zu verarbeiten.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ich mich besser erinnere, wenn ich weniger grüble?«
»Möglich, aber so simpel ist es wahrscheinlich auch wie der nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie so einfach aufhören könnten zu grübeln. Das ist ja ein Teil Ihres Handicaps. Nein, tun Sie, was ich gesagt habe, konzentrieren Sie sich auf das, was Sie gut können.«
Singsaker bedankte sich und dachte, dass es das erste Mal war, dass er Dr. Nordraaks menschliche Seite erlebt hatte. Er hatte gedacht, dieser Mensch bestünde bloß aus der äußeren Form und wenig Inhalt. Doch die Worte des Arztes beruhigten ihn tatsächlich. Wenn ein Streber wie Dr. Nordraak ihn in so gute Laune versetzen konnte, gab es vielleicht doch noch Hoffnung für die Menschheit, dachte er.
Zurück im Präsidium unterrichtete Brattberg ihn kurz über den aktuellen Stand der Dinge.
Jonny Olin war kooperativ gewesen und hatte Jensen und Gran freiwillig begleitet. Jetzt saß er mit den beiden im Ver hörraum, beteuerte aber standhaft, in den letzten Monaten lediglich mit Silje Rolfsen telefoniert zu haben, und das auch nur sehr selten. Singsaker verdrehte die Augen und holte sich eine Tasse Kaffee.
*
Hinter der Haustür blieb er stehen und schnupperte, wie er es aus irgendeinem Grund immer tat. Dabei wusste er gar nicht, was er da zu riechen erwartete. Seine Mutter? Den schweren Dunst von Tabak und alten Textilien, der das Haus längst verlassen hatte?
Der neue Besitzer hatte die Wände im Flur frisch gestrichen und eine neue Garderobe mit Schiebetür aufgestellt. Er roch deshalb nur einen Hauch Acryl, als er weiter ins Haus hinein ging, das nicht sonderlich verändert worden war, seit seine Mutter und er hier vor Jahren gewohnt hatten. Nachdem er das Haus unmittelbar nach dem Tod seiner Mutter verkauft hatte, mietete er es. Niemand wusste von diesem Mietverhältnis, nicht einmal seine Frau Anna. Hier konnte er ganz in Ruhe seine Dinge erledigen.
Er setzte sich in die Küche und dachte an den Traum von dem Mann und der Beerdigung am Himmel, den er in der vergangenen Nacht gehabt hatte. Und an seinen Vater, der seit vielen Jahren tot war. Er hatte sich den Lauf einer Schrotflinte in den Mund gesteckt und die Wand hinter dem Ehebett rot marmoriert. Das hatte etwas mit ihm zu tun. Damit, dass er sich die Finger abgehackt hatte und nie wieder für seinen Vater spielen konnte. Seine Mutter hatte ihm einen Anzug angezogen und ihn mit zur Beerdigung genommen. Eine dumme, sinnentleerte Zeremonie, hohle Worte. Er hatte nicht geweint. Jetzt wusste er, dass er von der echten Beerdigung geträumt hatte. In den Schritten, mit denen die Riesen über den Himmel geschritten waren, hatte wahre Trauer gelegen, und sie hatten den Sarg getragen, als lastete die Bürde der ganzen Welt auf ihren Schultern. Als er wach wurde, hatte er gehofft, dass dies der Traum war, nach dem er sich so lange gesehnt hatte, und dass er von jetzt an jede Nacht schlafen konnte. Er fürchtete aber, dass diese Hoffnung vergebens war und er nur diese eine Nacht zur Ruhe gekommen war und jetzt wieder eine Reihe von durchwachten Nächten folgte. Langsam, aber sicher würden diese schlaflosen, traumlosen Nächte seine Gedanken wieder in Albträume verwandeln. Der Mord hatte nicht ausgereicht. Es war die falsche Frau gewesen, die falsche Stimme. Er brauchte eine jüngere, reinere, eine, die sich fügte. Er wusste, wen er brauchte.
Zum Glück hatte er noch eine Spieldose. Eine herzförmige Schachtel, bezogen mit blauem Samt und mit einem Sänger auf dem Deckel in weißem Cutaway, Weste und Seidenschal. Der Sänger rotierte in einer langsamen Pirouette, während die Musik spielte. Es war die zweite der beiden Spieldosen aus dem Besitz seiner Mutter. Jetzt nahm er sie vorsichtig auseinander.
Auf der Trommel saß die dünne Kupferplatte mit den Stiften. Sie bewegten die Tonzungen an dem Kamm und erzeugten so
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