Die Melodie des Todes (German Edition)
letzten vier Jahre hatte sie an die fünfzig Sexualpartner gehabt und war dabei alles andere als wählerisch gewesen. Für sie spielte es keine Rolle, ob er alt oder jung war, hässlich oder attraktiv. Sie war schon immer eine Forschernatur gewesen und sah keinen Grund, das zu ändern, nur weil sie sexuell aktiv war. Wie bei allem, was sie tat, suchte sie auch auf diesem Gebiet eine tiefere Erkenntnis. Dabei war sie nie auf die Idee gekommen, nach einem geeigneten Mann zu suchen. Wenn sie zurückblickte, hatte sie etwa einen Partner pro Menstruationszyklus gehabt. Aber da weder die Zyklen noch die sexuellen Aktivitäten nach Kalender liefen, ging diese Rechnung nicht ganz auf. Jetzt zum Beispiel war sie nach ihrer letzten Menstruation vor etwa vier Monaten nur mit einem Mann im Bett gewesen, weshalb sie auch ganz genau wusste, wer der Vater des Kindes war, das in ihr heranwuchs.
Obwohl Siri Holm nie übermäßig anspruchsvoll in der Wahl ihrer Partner gewesen war, gab es ein paar Männer, mit de nen sie niemals ins Bett gegangen wäre. Einer von ihnen hieß Gunnar Berg. Er war Historiker, arbeitete als Bibliothekar in der Gunnerusbibliothek, und saß an seinem Schreibtisch, als sie an seine Tür klopfte. Er war vollkommen humorlos, hatte dafür aber umso mehr Ahnung von Bänkelliedern und alten Drucken.
»Herein!«
Seine Stimme klang wie eine Hardangerfidel, die in Kinderhände geraten war.
Sie öffnete die Tür mit einem gewissen Unbehagen. Es bedrückte sie immer sehr, wenn sie mit Leuten in einem Raum war, die nicht lachen konnten.
»Hallo Gunnar, könnten Sie mir einen Gefallen tun?«
»Kommt drauf an, was für einen.« Berg sah von dem Titelblatt eines alten Buches auf, das ihm anscheinend Kopfzerbrechen bereitete.
»Ich suche nach einem Bänkellied«, sagte sie.
Das war das Stichwort. Sein Blick zeigte sofort Interesse.
»Ein Bänkellied, sagen Sie?«
»Ja, ich kann natürlich versuchen, es selbst zu finden, dachte aber, dass es bestimmt schneller geht, wenn ich Sie um Hilfe bitte. Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie die alle fotografiert, digitalisiert und katalogisiert, oder?«
»Stimmt. Das war eine ganz schön aufwendige Arbeit. Und es sieht so aus, als müssten wir das alles noch einmal machen.«
»Was, wieso das denn?«, fragte Holm und tat so, als wüsste sie nichts von der Planung.
»Also, wir haben die Drucke und Flugblätter der Lieder alle im Internet gespeichert, auf einem flashbasierten System namens Erez. Da können sie aber unter anderem von manchen Applerechnern nicht gelesen werden und außerdem ist Erez instabil. Es wird eine Mordsarbeit, das komplette Material in eine offene Lösung zu transferieren, aber das ist es wert.«
Sie musterte sein todernstes Gesicht und wusste, wie sehr er sich auf die Ausführung der Arbeit und das darüber Klagen freute. Dann reichte sie ihm den Ausdruck, den sie von Felicia bekommen hatte. Seine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten.
»Wo haben Sie den Druck her?«
»Sagen wir, er wurde mir aus den Staaten zugeschickt.«
Er begutachtete den Ausdruck weiter konzentriert.
»Okay, das könnte sein. Aber es ist bestimmt nicht der, den wir hier bei uns hatten.«
»Was meinen Sie mit hatten?«
»Dieser Druck, oder besser gesagt eine andere Version davon, wurde vor einem Jahr bei uns gestohlen, ehe wir ihn eingescannt hatten.«
»Wirklich?«
Sie fragte sich, ob das von Bedeutung für Felicias Auftrag sein könnte, kam aber nur zu dem Schluss, dass es höchstens die Beantwortung der Frage erschwerte.
»Dann haben wir diesen Druck also nicht mehr hier? Weder digital noch auf Papier?«, fragte sie.
»Richtig.«
»Und hier oben?« Sie tippte sich auf die Stirn. »Erinnern Sie sich an etwas Spezielles?«
»Da können Sie Gift drauf nehmen«, antwortete er in einem etwas gönnerhaften Ton. »Das ist ein Wiegenlied. Wenn ich mich richtig erinnere, ist das hier die vierte Strophe. Die Weise heißt ›Den Gyldene Freden‹ und das Titelblatt trägt den poetischen Untertitel ›Träume erschaffen die Welt jede Nacht neu‹. Das Amüsante an diesem Lied ist, dass es sich in gewisser Weise selbst besingt. Das Titelblatt wirbt damit, dass es wirklich jeden in den Schlaf wiegt. Man muss sie nur einmal hören und schon schläft man gut und träumt jede Nacht süße Träume, ein Leben lang. Nicht schlecht, was? Die Strophe, die Sie mitgebracht haben, handelt davon, wie das Lied einem Verbrecher nach einer Untat einen ruhigen Schlaf beschert. Aber
Weitere Kostenlose Bücher