Die Melodie des Todes (German Edition)
anders.
»Nicht ernst für die Gesundheit«, sagte Gran. »Aber mein Lebensgefährte und ich versuchen schon lange, ein Kind zu bekommen. Und in unserem Fall scheint die Natur ein bisschen Hilfe zu brauchen.«
Singsaker spürte, dass er rot wurde. Und er fragte sich, ob es nicht genau Intimgrenzen wie diese waren, die ältere und jüngere Menschen trennten.
»Ich konnte den Termin aber problemlos verschieben und kann mir denken, warum man uns gebeten hat zu kommen. Du doch auch, oder?«
Singsaker nickte langsam.
»Da ist was dran, ja. Die Mutter wirkt schon wie jemand, vor dem man als Sechzehnjährige gerne wegläuft. Aber was mir nicht in den Kopf will, ist dieser Hund. Warum nimmt sie den Hund mit, wenn sie von zu Hause weglaufen will?«
Gran blieb stehen und sah ihn an. Sie hatten jetzt beinahe die Kreuzung an der Ludvig Daaes gate erreicht und sahen bereits den Tatort.
»Ich denke, wir sollten schnellstmöglich mit ihrem Freund und ihren Freundinnen reden. Meinst du, wir können sie aus der Schule holen?«, fragte sie.
»Wenn wir diskret genug sind«, sagte Singsaker und blickte in Richtung der Rosenborg-Schule. »Wir sollten es im Augenblick noch nicht an die große Glocke hängen. Ein bisschen Gerede wird aber wohl trotzdem nicht zu vermeiden sein. Was meinst du, soll ich in die Schule gehen und vorsichtig ein paar Türen öffnen, während du hier in der Nachbarschaft herumfragst?«
Mona Gran nickte.
»Ich informiere Brattberg. Wir sollten eine umfangreichere Vermisstenmeldung rausgeben. Die Busgesellschaften und die Eisenbahn müssen unterrichtet werden, insbesondere in Oslo. In der Regel landen sie früher oder später da, wenn sie nicht zu jemandem gehen, den sie kennen«, sagte sie.
Singsaker mochte ihre Entschlossenheit, und es würde ihn nicht überraschen, wenn sie noch vor seiner Pensionierung Hauptkommissarin würde.
»Sie kann die Stadt verlassen haben, aber in der Drogenszene auf der Plata landet dieses Mädchen nicht«, sagte er. Dabei könn ten sie sich wahrscheinlich freuen, wenn sie Julie Edvardsen bloß mit ein paar Einstichen im Arm wiederfanden, dachte er.
»Was sagst du zu dem Vater?«, fragte Gran. »Kam dir der nicht auch seltsam unbeteiligt vor?«
»Er war nicht unbeteiligt«, antwortete Singsaker. »Ich habe das schon oft gesehen. Die verdrängen das. Das ist bei dramatischen Ereignissen nicht ungewöhnlich. Es ist seine Art, das zu verarbei ten. Vermutlich ist er wirklich davon überzeugt, dass sie jeden Augenblick wiederkommt, solange keine Beweise für das Gegenteil auftauchen.«
»Dann gibt es keinen Grund, ihn zu verdächtigen?«
»Die Frage ist, für was wir ihn verdächtigen sollen. Aber du weißt ja, wie das ist. Solange keiner verdächtig ist, sind alle verdächtig«, sagte Singsaker.
Sie trennten sich und machten sich an ihre Aufgaben, wobei Singsaker sich im Gegensatz zu Gran uralt fühlte.
*
Julie Edvardsen war jung. Sie hatte noch nie an ihren eigenen Tod gedacht. Bis jetzt.
Sie lag auf dem Boden eines verschlossenen Kellerabteils und atmete schwer. Es war kalt. Ihre Stirn schmerzte und sie glaubte, eine Beule zu haben, konnte aber nicht nachfühlen, weil ihre Arme gefesselt waren. Wenigstens hatte er dieses Mal das Licht brennen lassen, sodass sie den Raum in Augenschein nehmen konnte, in dem sie lag. Auf dem Boden waren braune und dunkelrote Flecken. Die gleichen Farben waren oben an der einen Wand zu erkennen, direkt unterhalb des mit Zeitungspapier verkleideten Fensters. Ihr wurde übel, sie war kurz davor, die Hoffnung aufzugeben. Andererseits war ihr klar, dass sie genau das jetzt nicht tun durfte.
Langsam, wie bei einer schlechten Internetverbindung, setzten sich die Geschehnisse, die sie an diesen Ort gebracht hatten, wieder zusammen:
Sie hatte es in dem Augenblick verstanden, als sie die Einkaufs taschen auf den Stuhl im Flur gestellt und sich zu ihm umge dreht hatte. Er war nicht mehr wiederzuerkennen gewesen. Oder richtiger, erst jetzt sah sie, wer er wirklich war. In seinem Blick war keine Hilflosigkeit mehr gewesen, sondern einzig und allein Wahnsinn.
»Ich will, dass du für mich singst«, hatte er gesagt.
Dann hatte er seinen Arm langsam aus der Schlinge gezogen. Wie gelähmt hatte sie auf seine unverletzte Hand gestarrt und sich gefragt, wie sie so naiv hatte sein können, ihm zu glauben?
In der Hand hielt er ein Gerät, das sie nur aus Filmen kannte, einen Elektroschocker, der ihr mit einem Stoß die Besinnung rauben würde. Dann zog
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