Die Melodie des Todes (German Edition)
Sie öffnete sie und warf einen Blick nach draußen. Es war dunkel geworden.
Jetzt ist es einen Tag her, dass Julie verschwunden ist, dachte sie.
Unmessbare Zeit. Bevor sie am Morgen aufgewacht war, hatte es Minuten, Stunden und Tage gegeben. Jetzt waren all diese Maßeinheiten aufgehoben, es gab nur noch Atemzüge, Schritte, Knarren, Blicke zur Tür, eine Unendlichkeit aus steifen Gesten und Warten.
Niemand kam aus dem Dunkel auf sie zu. Sie schloss die Tür, doch als sie zurück zum Wohnzimmer ging, spürte sie erneut den kalten Luftzug. Das Badezimmer. Die Kälte kam von dort. Sie öffnete die Tür und stellte fest, dass das kleine Fenster ganz oben an der Wand offen stand. Das war ungewöhnlich. Im Winter war das Fenster nie geöffnet. Sie kletterte auf den Toilettensitz, um es zu schließen, als sie die Fliegen sah. Dicht an dicht im Rahmen, dort wo die Gummidichtung einen kleinen Hohlraum bildete, saßen bestimmt zwanzig von ihnen. Erst leblos und still, bis sich plötzlich eine von ihnen bewegte. Das Insekt schwirrte krampfhaft mit den Flügeln, hob aber nicht ab, sondern drehte sich inmitten ihrer halb toten Artge nossen im Kreis. Sie zitterte, wusste aber nicht, ob vor Kälte oder Ekel. Sie wollte das Fenster schließen und die Fliegen sich selbst überlassen, als sie eine Melodie hörte. Spröde Töne, die langsam und einzeln kamen. Der klare, metallische Ton erinnerte sie an eine Spieldose.
Dann glaubte sie, draußen im Schnee eine Gestalt stehen zu sehen. Da war doch jemand, oder? Ein paar kurze Sekunden stand die Gestalt vollkommen still. Das ist er, dachte sie, und ihre Gedanken rasten zurück zu den Schlagzeilen der Zeitungen über die Spieldose, die sie auf der Toten in der Ludvig Daaes gate gefunden hatte. Das ist ihr Entführer, dachte sie.
Dann verschwand die Gestalt hinter einem Baum und mit ihr die Melodie. Sie konzentrierte sich, hörte aber nur noch das schwache Rauschen des Windes in den Bäumen.
Ich werde noch verrückt, dachte sie, als sie vom Klodeckel stieg. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich träume, obwohl ich wach bin.
Draußen auf dem Flur traf sie ihren Mann. Er hielt eine Spraydose in der Hand.
»Das Fenster im Bad stand offen«, sagte sie.
»Ich weiß«, antwortete er. »Ich bin am Putzen. Am Fensterrahmen war ein Haufen Fliegen. Ich war gerade im Keller, um das Spray zu holen.«
»Du putzt? Unsere Tochter ist verschwunden und du putzt?«
Sie hätte ihn am liebsten geschlagen, tat es aber nicht.
»Es ist doch besser, was zu tun, statt nur rumzusitzen und zu warten. Außerdem wird sie zurückkommen. Das hat die Polizei auch gesagt. Sie glauben, sie wäre bloß abgehauen, um uns einen Stich zu versetzen.«
»Ich werde noch verrückt«, sagte sie. Dann begegnete sie seinem Blick. »Komm mit.«
Sie nahm ihn mit in den Garten. Zog ihn hinter sich her durch den tiefen Schnee, der vor dem Badezimmerfenster auf dem Rasen lag. Neben der dicken Eiche sahen sie die Spuren.
»Jemand war hier«, sagte sie. »Ich bin nicht verrückt.«
»Das waren die Nachbarkinder«, sagte er. »Die kommen ständig in den Garten.«
In dem trockenen, tiefen Schnee gab es nicht eine deutliche Fußspur, nur eingefallene Vertiefungen. Man konnte unmöglich erkennen, von wem die Spuren stammten.
»Du hast bestimmt recht«, sagte sie. »Aber was, wenn es dieser Typ war?«
»Wer?«
»Der, der sie entführt hat. Was, wenn der es jetzt auf uns abgesehen hat?«
»Niemand hat sie entführt, Elise.« Er sagte das so bestimmt, dass sie ihm fast glaubte.
»Er hat eine Melodie gespielt«, sagte sie. »Sie klang so friedlich. Fast wie ein Wiegenlied.«
»Du bist müde, Schatz. Das bildest du dir nur ein, weil du müde und verängstigt bist. Es ist kalt. Lass uns reingehen.«
*
Gedankenverloren hatte Odd Singsaker seinen Kopf auf Felicias Schulter gelegt. Er fand definitiv keinen Zugang zu dem Film, den sie sich gerade ansahen.
»Wir hatten in Richmond jedes Jahr ein paar solcher Fälle«, sagte Felicia und rutschte auf dem Sofa zur Seite. »Die Fälle, wo wir die Jugendlichen nicht wohlbehalten wiedergefunden haben, kann ich an einer Hand abzählen. Manche sind auch ganz von selbst wieder aufgetaucht.«
»Genau das macht es ja so schwierig. Erfahrung und Ver nunft fordern, einen kühlen Kopf zu bewahren. Aber was, wenn der Fall hier eine der berühmten Ausnahmen ist? Wenn er doch etwas mit dem Mordfall zu tun hat? Und wenn der alte Profes sor in beide verstrickt ist? Du hättest die Eltern sehen
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