Die Melodie des Todes (German Edition)
war in einer seltsamen Mischung aus Dänisch und Schwedisch geschrieben. Das Lied erinnerte sie ein bisschen an die Wiegenlieder von Bellman.
»Du musst dieses Lied lernen«, hatte er gesagt. »Du sollst es für mich singen.«
Er hatte es ihr auf einer Spieldose vorgespielt, die er wieder und wieder vor ihrem Verschlag aufgezogen hatte. Es war eine verträumte Melodie, die auf seltsame Weise hierher passte, in diesen eiskalten Kellerraum so fern von jeder Wirklichkeit.
Als sie fertig war, lehnte sie sich wieder an die Wand und ließ sich langsam nach unten rutschen. Sie wartete auf den Schlaf und fuhr sich mit den Händen über den Rücken. Näher konnte sie dem Kind, das in ihr lebte, nicht kommen. Sie weinte und wollte für das Kind singen. Im Hintergrund hörte sie Bismarck winseln. Es klang so jämmerlich, als wäre er dem Tode nah. Das Todeswinseln, die Musik aus der Spieldose und das Kind, das sie weder hören noch fühlen konnte, waren wie die Ingredienzen eines Traums, aus dem sie früher oder später doch aufwachen musste. Allein dieser Gedanke hinderte die Zeit daran, vollends stehen zu bleiben.
Dann kam er die Treppe herunter.
Komm schon, spiel mir wieder deine Scheißmusik vor, dach te sie.
Aber dieses Mal zog er die Spieldose nicht auf, sondern ging zu dem Hund hinein. Sie wusste, was jetzt kam. Wenn sie sich nur die Ohren zuhalten könnte. Aber sie hörte alles. Das Geräusch der Tritte war dieses Mal lauter zu hören als das Winseln des Tieres.
Vollkommen erschöpft schob sie sich wieder an der Wand nach oben. Als sie das letzte Mal nach unten geglitten war, hatte sie gemerkt, das das Tau, mit dem ihre Hände gefesselt waren, über die raue Oberfläche scheuerte. Wenn sie so weitermachte, sich beständig nach oben schob und sich dann wieder nach unten rutschen ließ, würde es vielleicht nachgeben.
Ich muss hier weg, dachte sie. Nicht nur meinetwegen, auch wegen Bismarck und dem Kind.
16
Trondheim, 1767
N ichts duftete so gut wie ein Säugling. Es lag eine Ruhe in dem Duft dieser kleinen Wesen, die vielleicht einer fernen, sehr fernen Erinnerung entstammte. Bayer musste dabei immer an Dänemark denken, an seine eigene Kindheit, an neugeborene Kälber, die Wärme des Ofens, an das dünne, frisch ge waschene Laken, das in warmen Sommernächten über ihm lag. Jedes Kind hat seinen eigenen Geruch, doch allen gleich war, dass man darin auch den Geruch der stillenden Brust erah nen konnte. Ein erregendes Element, das den Augenblick der Ruhe dabei in keiner Weise störte. Vor allem aber rochen Kinder nach Zukunft, Haselnüssen und Sauerteig und jungen Bäumen.
Wenn sie keine neue Windel brauchten.
Der Junge, den Nils Bayer auf dem Arm hielt, brauchte eine. Trotzdem wollte er die Schwester noch nicht rufen. Diese Mor genstunden gaben ihm Kraft. Er war glücklich darüber, dass Mutter Anne, die das Kinderheim leitete, ihn hin und wieder heimlich hereinließ, um bei den Kindern sein zu können. Der Polizeimeister meinte es nur gut mit ihnen, und ohne dass sie jemals darüber gesprochen hätten, wusste sie, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als ein eigenes Kind. Manchmal bildete er sich ein, das wäre die Lösung all seiner Probleme, und dass er dann auch die Trinkerei, den empfindlichen Magen und sein hitziges Temperament in den Griff bekommen würde. Andererseits war seine Menschenkenntnis gut genug, um in diesem Punkt an sich selbst zu zweifeln.
Er dachte an den vergangenen Nachmittag und seinen ergebnislosen Versuch, den schwedischen Herrn zu finden, der ihm vielleicht etwas über den rätselhaften Mord sagen konnte. Fast bis Mitternacht hatte er im Wirtshaus gesessen und gewartet. Aber der Herr war nicht aufgetaucht. Schließlich war er nach Hause gegangen und hatte sich in den Schlaf getrunken.
Am Morgen war er mit klarem Kopf aufgewacht. Ihm war in den Sinn gekommen, dass ein Mann von Stand vermutlich anderen seines Rangs seine Aufwartung machen würde, wenn er in einer fremden Stadt war. Deshalb beschloss er, seinem Freund Søren Engel einen Besuch abzustatten. Da er aber an diesem Morgen lange vorm ersten Hahnenschrei aufgestanden war, hatte er Zeit gehabt, im Kinderheim vorbeizuschauen. Er drückte den warmen, weichen Körper gegen seinen enormen Bauch und dachte, dass alle Menschenkinder ihr Leben auf die bestmögliche Weise begannen, selbst die armen Würmer, die vor der Tür des Kinderheims gefunden wurden oder deren Mütter im Kindbett verblutet waren. Schon seltsam, wie man
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