Die Memoiren des Barry Lyndon - aus dem Königreich Irland, samt einem Bericht über seine ungewöhnlichen Abenteuer, Unglücksfälle, Leiden im Dienste Seiner Majestät des Königs von Preußen, seine Besuche an vielen europäischen Höfen, seine Heirat und ...
oder ob er der Prahlsucht Barry Lyndons zuzuschreiben ist, der nur wenige Zeilen später versichert, die Angaben im traditionsreichen Herald’s College, einer Art britischem Adelskalender, seien auch nicht zuverlässiger als die seinen.
Barry Lyndon ist eine erstaunliche Figur, abstoßend in vielerlei Hinsicht: durch die Prahlsucht, die durchgängig den Ton seines Lebensberichts bestimmt, durch den unwiderstehlichem Ehrgeiz und Aufstiegswillen, der ihn antreibt, durch die Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit, die
sein Verhalten bestimmt. Andererseits sind die Energie und die Entschlossenheit, mit denen er seine Ziele verfolgt, auf ihre Weise bewundernswert, auch wenn man die Ziele selbst nicht billigen kann. In Barry mischen sich gute und böse Eigenschaften, obwohl es fraglich ist, ob solche moralischen Kategorien ihm gegenüber greifen. Fast ist er, durchaus im Sinne Nietzsches, eine Figur «jenseits von Gut und Böse». Er hasst die Schule, das Studium, alte Sprachen, alle höhere Geistestätigkeit, er verspottet Dichter und Denker, nennt sogar den berühmten Dr. Johnson, Inbegriff der englischen Aufklärung, «einen großen Bären», und stellt dagegen seine«natürliche Philosophie»: Reiten, Fechten, Saufen, Umgang mit Pferden, Erfahrung beim Hahnenkampf und die Manieren eines Mannes von Welt. Das könnte noch hingehen, dann aber liest man: «Dass ich zum Gentleman geboren war, begriff ich dank der Leichtigkeit, mit der ich dieses Geschäft aufnahm, und ein Geschäft ist es ohne Zweifel.» So würde ein Gentleman nie sprechen. In mancher Hinsicht ist Barry Lyndon ein Vorläufer des Snobs und somit eines Typus, für dessen Tun und Treiben gerade in seiner britischen Heimat Thackeray ein besonderes Sensorium besaß. Beim
Snob findet man die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Pyramide, an deren Spitze Hof und Hochadel stehen – ihre äußeren Insignien versucht er sich anzueignen. Barry Lyndon ist insofern ein Snob, als er sich unaufhörlich selbst inszeniert und stilisiert. Noch seine im Gefängnis, aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte geschriebenen Memoiren sind eine große Inszenierung seines Lebens, darauf gerichtet, nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst zu täuschen. Ob Barry prahlt oder nicht, ob er lügt oder die Wahrheit sagt, spielt keine große Rolle angesichts der Tatsache, dass er selbst von der Wahrheit seiner Schilderung zutiefst durchdrungen ist. Man muss schon genauer hinschauen, um hinter die Fassade seiner Selbstdarstellung zu blicken und zu erkennen, dass seine angemaßten Tugenden auf tönernen Füßen stehen: Er renommiert mit seinem soldatischen Mut, obwohl er sein Regiment verlässt, beleidigt am liebsten Leute, die sich nicht dagegen wehren können, lässt sich von Menschen überlisten, die nicht besonders klug sind, und setzt seine Intelligenz hauptsächlich ein, um für seinen preußischen Hauptmann zu spionieren, am Spieltisch zu betrügen und die Güter seiner Frau leichtsinnig zu verschleudern. In den letzten Kapiteln
ist er durchgehend betrunken, im Rausch verprügelt er seine Frau und bemäntelt das mit den Worten: «Ich glaube, Frauen wissen ein etwas heftigeres Temperament durchaus zu schätzen und schmähen einen Gatten, der seine Autorität streng ausübt, keineswegs.» Das alles ist schwerlich einnehmend. Aber dann imponieren doch die Energie, mit der Barry den Plan verfolgt, in Lady Lyndon die beste Partie von ganz England zu gewinnen, und die Ausdauer, mit der er ihn ausführt: «Warum sollte nicht ich sie erringen und mit ihr die Mittel, um in der Welt jene Figur abzugeben, die mein Genie und meine Neigung ersehnten? Ich … war entschlossen, diese hochmütige Dame zu bezwingen. Und wenn ich etwas beschließe, ist es schon so gut wie erledigt.» Wieder denkt man an Casanova, der nach seinem Ausbruch aus den Bleikammern von Venedig, aus denen noch nie jemand entkommen war, triumphierend notiert: «Ich habe immer daran geglaubt, dass ein Mensch, der es sich in den Kopf setzt, irgendeinen Plan auszuführen, trotz aller Schwierigkeiten zum Ziel kommen muss; ein solcher Mensch wird Großwesir, wird Papst, er stürzt einen Monarchen, vorausgesetzt, dass er sich beizeiten damit befasst …»
Wie Casanova gehört Barry Lyndon der vorrevolutionären Epoche an, dem Ancien Régime, aber das Herrenrecht, das er für sich in Anspruch nimmt, ist angemaßt und usurpiert, und seine Rolle als Gentleman ist nicht mehr als eine gewalttätige Karikatur. Sozialer
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