Die Menschenleserin
und Linda, damit ich mich nicht einmischen konnte und Sie womöglich gehindert hätte, Pell zu töten.«
»Der Schuss hat sich unbeabsichtigt gelöst«, stellte er sachlich fest. »Das war unbedacht von mir. Ich hätte es einräumen sollen, aber es war mir peinlich. Es wirkt nämlich so unprofessionell.«
Eine Lüge...
Seine Schultern sackten unter Dances Blick leicht herab, seine Lippen wurden schmaler. Sie wusste, dass es kein Geständnis geben würde – sie war nicht mal darauf aus -, aber er wechselte in einen anderen Stresszustand. Anscheinend war er keine völlig gefühllose Maschine. Sie hatte ihn getroffen, und es tat weh. Für Kathryn Dance war das so gut wie ein Geständnis.
»Ich rede nicht über meine Vergangenheit und das Schicksal meiner Tochter. Vielleicht hätte ich Ihnen mehr anvertrauen sollen, aber wie mir aufgefallen ist, erzählen Sie auch nicht gerade viel von Ihrem verstorbenen Mann.« Er hielt kurz inne. »Sehen Sie sich um, Kathryn. Sehen Sie sich die Welt an. Wir sind so verzweifelt, so zerrüttet. Echte Familien werden immer seltener, und dabei sehnen wir uns so sehr nach der Geborgenheit, die sie geben. So sehr... Und was passiert? Es kommen Leute wie Daniel Pell daher. Und sie saugen die Verletzlichen, Bedürftigen regelrecht auf. Die Frauen in Pells Familie – Samantha und Linda. Das waren gute Mädchen, die bis dahin nie etwas wirklich Schlimmes getan hatten. Und sie wurden von einem Killer verführt. Warum? Weil er das eine, was sie nicht hatten, vor ihrer Nase baumeln ließ: eine Familie.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie oder Jennie Marston oder jemand anders, der unter seinem Einfluss stand, anfangen würden, Morde zu begehen. Oder vielleicht Kinder zu entführen. Sie zu missbrauchen. Sogar im Gefängnis hatte Pell seine Anhänger. Wie viele von denen haben nach ihrer Freilassung das Gleiche getan wie zuvor Pell?... Diese Leute müssen aufgehalten werden. Ich verfolge sie hartnäckig, ich erziele Ergebnisse. Aber ich überschreite dabei keine Grenze.«
»Sie überschreiten dabei nicht Ihre Grenze, Winston. Aber Sie können nicht einfach eigene Maßstäbe anlegen. So funktioniert das System nicht. Daniel Pell hat auch nie geglaubt, er würde etwas Unrechtes tun.«
Er lächelte und zuckte die Achseln, eine symbolhafte Geste, die für Dance zu besagen schien: Sie sehen es auf Ihre Weise, ich auf meine. Und wir werden uns in diesem Punkt niemals einigen.
Das alles fand natürlich nonverbal statt. Aber für Dance war es so eindeutig, als hätte er gesagt: »Ich bin schuldig.«
Dann erstarb sein Lächeln, so wie gestern am Strand. »Eines noch. Was die Sache zwischen uns betrifft, die war echt. Was Sie auch von mir halten mögen, die war echt.«
Kathryn Dance wusste noch, wie sie mit ihm den Korridor im CBI-Gebäude hinuntergegangen war und er wehmütig angemerkt hatte, Pells drei Frauen seien tatsächlich so etwas wie eine Familie. Die Lücken in seinem Leben hatten sich dabei schon angedeutet: die Einsamkeit, die Arbeit als Ersatz für eine gescheiterte Ehe, der unsagbar schreckliche Tod seiner Tochter. Dance zweifelte nicht daran, dass er sie zwar hinsichtlich seiner Pläne getäuscht, ansonsten aber aufrichtig versucht hatte, eine Beziehung zu ihr aufzubauen.
Und als kinesische Analytikerin konnte sie sehen, dass seine Behauptung – »die war echt« – absolut der Wahrheit entsprach.
Doch das war für das Verhör unerheblich, und sie würdigte es keiner Antwort.
Dann bildete sich zwischen seinen Augenbrauen ein leichtes V, und das falsche Lächeln kehrte zurück. »Wirklich, Kathryn. Das hier ist keine gute Idee. In einem solchen Fall zu ermitteln, wird ein echter Albtraum. Für das CBI... und auch für Sie persönlich.«
»Für mich?«
Kellogg schürzte einen Moment lang die Lippen. »Ich meine mich zu erinnern, dass im Hinblick auf das von Ihnen durchgeführte Verhör im Gerichtsgebäude von Salinas einige Fragen aufgetaucht sind. Eventuell wurde ja etwas gesagt oder getan, das Pell die Flucht erleichtert hat. Ich kenne keine Einzelheiten. Vielleicht war es auch gar nichts. Aber ich habe gehört, das Amy Grabe sich ein oder zwei Notizen dazu gemacht hat.« Er zuckte die Achseln und hob abwehrend beide Hände. Die Handschellen klirrten.
Overbys feige Schutzbehauptung gegenüber dem FBI rächte sich. Dance kochte vor Wut über Kelloggs Drohung, ließ sich aber nicht das Geringste anmerken. Ihr Achselzucken war sogar noch gleichgültiger als seines. »Falls
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